NIC BALTHAZAR ÜBER »BEN X« »Sozial erblindet« Der Autor und Regisseur Nic Balthazar über Mobbing, Handys als Waffe und über seinen Film »Ben X« Die Kritik zum Film
Ihr Film beruht auf dem authentischen Fall. Wie viel ist von der Realität in den Film eingeflossen? Die Realität ist im Fall des Jungen, der sich in Gent von einer mittelalterlichen Burg in den Tod gestürzt hat, weitaus grausamer als die filmische Fiktion. Was wir im Film an Mobbing zeigen, ist höchstens zehn Prozent von dem, was dieser Junge erlebt hat. Es wäre für die Zuschauer unzumutbar, so etwas im Film zu zeigen. Und durch die Gespräche, die ich über den Film mit Schülern geführt habe, weiß ich jetzt, dass dies kein Einzelfall ist. Die Untersuchungen zeigen, dass jeder dritte Jugendliche schon einmal Opfer von Mobbing war und jeder zehnte gerät in Stress, wenn eine Nachricht auf sein Handy kommt, weil es wieder eine Hass-Mail sein könnte. Ist Autismus für Sie auch eine gesellschaftliche Metapher? Viele autistische Jugendliche werden gemobbt, weil sie das Wichtigste in der Schule nicht verstehen: die sozialen Codes. Autisten sind sozial erblindet und darum oft nicht charmant, nicht cool, nicht freundlich. Sie wissen nicht, wie man sich kleiden, was man sagen, wie man sich verhalten soll. Und das ist in diesem Alter das Wichtigste. Ben steht natürlich für alle Jugendlichen, die anders sind und in diesem sozialen Spiel nicht genug Persönlichkeit haben, sich zu verteidigen. Und solche Leute sind in unserer Gesellschaft, egal ob jung oder alt, verloren. Darüber hinaus verweist der Film darauf, dass viele nicht-autistische Jugendliche ein Problem mit Empathie haben Der Lehrer fragt seine Klasse: "Warum ist es so schwierig, jemanden zu akzeptieren, der nur ein bisschen anders ist? " Das Kino muss die interessanten Fragen stellen und es dann dem Zuschauer überlassen, die richtigen Antworten zu finden. Meine persönliche Meinung ist, dass wir viel mehr Probleme haben mit Leuten, die anders sind, als wir uns eingestehen möchten. Vielleicht hat das anthropologische Gründe. Die Menschen haben tausende Jahre in einer Situation gelebt, in der ein behinderter Mensch eine Behinderung für die Gruppe darstellte. Heute sind wir so weit, dass wir solchen Menschen eine Chance geben. Es ist toll, dass wir in einer Welt leben, die für behinderte Menschen Werkstätten, Wohnheime und andere Hilfsangebote bereithält. Aber tief in unseren Genen lebt noch immer ein Widerstand. Wir finden es o.k., dass Behinderten geholfen wird, aber wir lassen sie immer noch nicht gerne in unsere Gruppe hinein. Der Film zeigt, dass Gewalt dadurch verstärkt wird, dass sie mit der Handy-Kamera dokumentiert werden kann. Mobbing hat durch die Handys eine andere Dimension bekommen. Jedes Handy mit einer Kamera ist eine Waffe. Bei jedem Jugendlichen, der heute geschlagen wird, gibt es immer auch einen, der das filmt. Wenn man die Peinigung filmt, vom Handy downloaded und mit einem Link ins Internet stellt, handelt es sich nicht mehr um irgendein Spiel, das aus dem Ruder geraten ist, sondern um eine vorsätzlich geplante Bösartigkeit, mit der Menschen buchstäblich vor der ganzen Welt erniedrigt werden sollen. Ihr Film baut auch Videospielsequenzen mit ein und zeigt, dass die Spielkonsole für Jugendliche nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen birgt. Warum sind Sie da so optimistisch? Natürlich sind Videospiele mit ihren gewalttätigen Inhalten eine Gefahr. Für die kommende Generation in unserer Gesellschaft wird das zu Problemen führen, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Aber umgekehrt gibt es dort auch eine ungeheuer faszinierende Welt, in der Leute Verständnis finden, denen jegliches Mitgefühl in der normalen Welt verwehrt wird. Hier hören die Leute einem zu, egal ob man zu klein, zu dick oder ein Autist ist. Es zählen nur die Worte, die man über die Tastatur eintippt und sonst nichts. Für viele Autisten sind diese Internetspiele eine Rettung. Interview: Martin Schwickert
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