BEN X Mobbing im Klassenraum Nic Balthazars Jugendfilm verbindet kalte Realität und virtuelle Kuschelecken in einer brillanten Inszenierung Sie reden und reden und sie trinken sogar den Speichel voneinander. Wenn Ben seine quasselnden oder knutschenden Altersgenossen an der Bushaltestelle beobachtet, dann tut er das mit dem Blick eines Zoologen, der eine ihm fremde Spezies verstehen will. "Die Menschen" nennt er sie, als sei er selbst keiner von ihnen. Ben ist dazu verdammt, unter ihnen zu leben, und das ist schwer, wenn man sechzehn ist und so einer wie er. Ben ist kein Außerirdischer. Ben leidet am Asperger-Syndrom, einer unauffälligeren Form von Autismus. Das, was die Menschen miteinander tun, wie sie reden, was sie fühlen, ihre sozialen Codes - alles das ist für Ben ein Rätsel. Wenn Ben das Haus verlässt, fällt der ganze Krach des Alltags über ihn her. Je mehr er sich der Schule nähert, umso größer wird der Stress. Die Mitschüler ärgern und quälen den Sonderling. "Ist es denn so schwer zu akzeptieren, dass jemand ein bisschen anders ist?" brüllt der Lehrer die Klasse an, nachdem Ben wieder einmal im Unterricht mit Papierkugeln traktiert wurde. Das ist auch die Leitfrage, die sich durch Nic Balthazars Jugenddrama Ben X hindurchzieht. Dabei will Ben einfach nur in Ruhe gelassen werden - das wäre sein größtes Glück. Aber gerade das ist zuviel verlangt von den Erwachsenen, die ihn für die Härten des Alltags rüsten wollen, und den Mitschülern, die ihn mit jugendlichem Sadismus mobben, ihm auf dem Lehrerpult die Hosen runterziehen und die Videoaufnahmen ins Internet stellen. Ausgerechnet ins Internet. Der virtuelle Raum war bisher die einzige Schutzzone, in der Ben sich finden und erfinden konnte. In dem Fantasy-Spiel Archlord mutiert er zum tapferen Einzelkämpfer "BenX" und schließt dort Freundschaft mit der schönen Heilerin Scarlite. Gerade als Scarlite Ben ihren ganz konkreten Besuch im echten Leben ankündigt, erreichen die Schikanierungen der Mitschüler einen grausamen, dramatischen Höhepunkt. Mit dramaturgischer und visueller Brillanz lässt Nic Balthazar brutalen Schulalltag und Cyberspace ineinanderfließen. Das Videospiel wird zur perfekten Metapher für die Lebenswahrnehmung des autistischen Helden. Wenn Ben durch die Straßen geht, stürzen die alltäglichen Eindrücke wie gegnerische Spielfiguren auf ihn ein. Die subjektive Kamera und die leicht verzerrten Soundeffekte scheinen direkt aus Bens Kopf heraus zu berichten. Ben versucht, das Leben der Menschen wie ein Spiel zu analysieren, in dem er durch Planung und Strategie das nächste Level erreichen will - ein hoffnungsloses Unterfangen im echten Leben mit all den unberechenbaren Mitmenschen. Ausgangspunkt für den Stoff, der vorher schon als Roman- und Bühnenversion in Belgien Erfolge feierte, war eine Zeitungsmeldung über den Selbstmord eines autistischen Jugendlichen. In fingierten Interviewsequenzen spiegelt Ben X die Medienwahrnehmung des Falles, bietet aber mit einer intelligenten Schlusswendung einen deutlich hoffnungsvolleren Ausklang. Gleichzeitig gelingt es Balthazar zu zeigen, dass es hier nicht nur um die spezifische Krankheit geht, sondern um den mitleidslosen Umgang der Gesellschaft mit Menschen, die deren Normvorstellungen und soziale Codes nicht verstehen - ein Thema, das nicht nur an Schulen eine große Brisanz hat. Ben X ist mit Abstand einer der besten Jugendfilme der letzten Jahre. Spannend, intelligent und berührend. Martin Schwickert Belgien 2007 R&B: Nic Balthazar K: Lou Berghmans D: Greg Timmermans, Laura Verlinden, Marijke Pinoy Das Interview zum Film
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