DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (52. Lieferung)

Ganz normale Gauner


und hier die vorherige-Ausgabe

Ist Gregg Hurwitz ein Staatsfeind? Etwa weil in seinen neuen Thriller Tödlicher Fehler am Anfang schwere Polizei durch die Tür des Helden bricht, ihn aus dem Bett reißt und entführt? Ist er ein Öko, weil es von da gleich in ein Atomkraftwerk geht, das ein Terrorist sprengen will, wenn man ihm nicht den Helden zuführt? Ist er ein bloßer Plot-Baukasten-Würfler, weil der Held da auf sein Trauma trifft, am Tod seines Stiefvaters Schuld zu sein? Oder ist er Republikaner, weil im Hintergrund ein so strahlender demokratischer Präsidentschaftskandidat aufgebaut wird, dass man gleich ahnt, wie böse das endet? Nämlich als ganz normale Durchstecherei im Dienst und Spätaufklärung von Jugendsünden. Wie auch immer, es ist vor allem verdammt spannend gemacht und mit einem Helden ausgestattet, den es nicht überrascht, dass mit der Lösung des Falls die Welt kein Stück besser geworden ist. Sogar Middle-of-the-Road-Thriller aus Amerika sind längst finnisch im Abgang.

Was als etwas säftelnde Korrespondenz zwischen einem alten Notar und einer 30 Jahren jüngeren Frau beginnt, entwickelt sich in Der geraubte Himmel von Andrea Camilleri recht bald zu einem kleinen Krimi, in dem es vordergründig um die Frage geht, ob Renoir je in Agrigente war, hintergründig darum, wie die Liebe noch im hohen Alter alles über den Haufen werfen kann. Mit wechselnden Stimmen und hochkomisch inszeniert Camilleri ein Gaunerstück, in dem es richtige Tote und eine Verfolgungsjagd und einen alten Hühnerstall und vier Bilder geht. Mindestens so witzig wie dieser kleine Briefroman ist Camilleris Nachwort, in dem er erklärt, wie er auf diese Geschichte gekommen ist und was ihr an Wahrheiten zugrunde liegt.

Für seinen ersten Krimi hat sich Jörg Thadeusz einen hektischen Stil draufgeschafft, der mit kurzen Kapiteln und ganz kurzen Sätzen Die Sopranistin rasant macht. Und uns rasend. Weil das ganze Personal, vom TV-Micki bis zum müden Bullen, vom amerikanischen Frisör mit deutscher Vergangenheit bis zur schönen Sängerin mit Untergrund durch sehr ähnlich gebaute Sätze stolpert. Und haltlos in der Story schlackert, die schnell zwischen Zweierkisten, Mediensatire und internationaler Geheimdienstkrämerei wechselt. Bei einem Fernsehpreis platzt eine Bombe. Es gibt Tote. Die CIA tritt auf. Radioreporter blamieren sich. Fiktive Politiker blubbern echt klingende Blasen. Verschiedene Familienschicksale blitzen zwischen den Kapitel auf, im Zentrum aber macht eine Gruppe Hobbyterroristen alles falsch. Ohne politische Theorie, nur brastig auf die Welt der Väter, lassen sie sich mit Drogenmafia und Libanon-Connection ein, und sind für Thadeusz eigentlich nur Vorwand, mit kleinen Kabinettstückchen zu brillieren. Etwa wenn ein FBI-Außenagent in Wien die CIA-Agentin konspirativ trifft und beide sich drei Seiten lang stilechter beleidigen, als man es je in Krimis hören könnte.

Es ist vermutlich witzig gemeint, wenn Friedrich Ani seinen neuen Roman um Tabor Süden einfach nur Süden nennt, und ihn dann in Teilen im Norden, auf Sylt, spielen lässt. Vielleicht grinst der Autor, der 2005 seinen Vermisstenkommissar in München kündigen und als Kellner in Köln verschwinden ließ, auch über eine Nebenfigur, die mit illegalen 100-Watt-Glühbirnen dealt. Überhaupt müsste der Humor bei Ani mal gesondert untersucht werden. Ansonsten tut Tabor Süden, was er am besten kann: Schweigen. Zuhören. Süden ist jetzt Privatdetektiv, deshalb darf er im Dienst auch Bier trinken, dann schweigt es sich besser. Und man erträgt die überall formvollendet hervorquellende Melancholie der Menschen leichter, die alle stockend anisch reden. "Ich habe meine Herzverkrustungen für mich behalten" denkt sich da eine etwa still bei sich. Das kann er doch nicht ernst meinen.

Wenn man als Künstler zu absoluter Berühmtheit gelangen möchte, gibt es nichts Besseres als den eigenen Tod. Allerdings hat der aufstrebende Autor Xaver Pucher jetzt nichts mehr von dieser Weisheit, denn er liegt erdrosselt in einem Zugabteil. Auf halber Strecke zwischen Wien und Berlin ist für ihn Endstation. Für die Mordkommissare Anna Haberl aus Wien und Thomas Bernhardt aus Berlin beginnt damit eine unfreiwillige Kooperation. Sie sollen den Mord gemeinsam aufklären, stehen sich jedoch sehr misstrauisch gegenüber. Welcher Deutsche lässt sich schon gern von einer Österreicherin in die Karten schauen? Claus-Ulrich Bielefeld und Petra Hartlieb beweisen in ihrem Krimi, dass eine deutsch-österreichische Zusammenarbeit sehr wohl Früchte tragen kann. Liebevoll erzählen sie die Geschichte der beiden Ermittler, die sich zwischen Wiener Schmäh und Berliner Schnauze zusammenraufen müssen.

Jagdzeit von David Osborn stammt aus den frühen 70ern, deshalb darf er auch mit einem Prolog anfangen, in dem beliebte, reiche High-School-Kids mit einer Gruppenvergewaltigung durchkommen. Damals war das noch ein erschreckender Gedanke, und bis heute wird er immer wieder verwendet (zuletzt bei Jussi Adler-Olsen). Erwachsen geworden, entwickeln die wilden Kids einen ekligen sportlichen Ehrgeiz, fangen vom Wege abgekommene Pärchen in den riesigen Wäldern Amerikas, quälen sie erst ein bisschen und veranstalten dann eine Menschenjagd. Auch dieser Plot-Dreh kommt in vielen Romanen und Filmen vor. Nur bei Osborn allerdings hat auch das Opfer-Paar eine eigene Geschichte von Sex und Macht. Und in einer dritten Ebene schleicht sich ein unerkannter Jäger an das teuflische Trio heran, um das Böse mit den eigenen Waffen zu erlegen. Das funktioniert alles tadellos und wirkt gar nicht veraltet. Ein Nachwort von Frank Göhre stellt den Autor David Osborn vor, erklärt aber leider nicht, warum nach der deutschen Erstausgabe 1975 nun eine Neuübersetzung nötig war. Die liest sich dafür gut.

Friedrich Glauser hat seinen guten Namen in Krimikreisen nicht nur von dem nach ihm benannten Krimipreis, sondern wegen seiner Romane um Wachtmeister Studer. Mit ihnen fing, Ende der 30 Jahre, die deutsche, oder jedenfalls die schweizer Kriminalliteratur an, sich ernsthaft um Unterprivilegierte und Abseitige zu kümmern, um Nervenheilanstalten und das Haschischrauchen. In Die Fieberkurve verschlägt es Wachtmeister Studer, ein gemütlich-bürgerliches Alte Ego des schmächtigen nervösen Glauser, bis nach Marokko und er gerät an Kif und ganz gesetzt aus dem Häuschen. Andererseits sitzt er mit seiner Frau beim Kerzenschein zu Hause und knackt eine Geheimschrift. Putzig. Und sehr schön altmodisch illustriert mit Zeichnungen von Reinhard Michel. Der Verlag hat der Neuausgabe noch die Rezepte für ein klassisches Schweizer Menü beigegeben, damit sie in die Reihe "Krimi, Kunst & Kochen" passt. Das geht in Ordnung, wenn auch im Buch weit mehr gegessen (Kutteln, Camembert), getrunken und vor allem geraucht wird.

Cherryman jagt Mr. White von Jakob Arjouni ist ein kleiner Brief-Roman. Der 18jährige Gärtnerlehrling Rick aus Ostdeutschland schreibt vor seinem Prozess einen langen Brief an seinen Psychologen. Irgendetwas Schlimmes hat Rick getan, und es hat offensichtlich mit einer Nazi-Bande zu tun, die ihn jahrelang terrorisiert hat. Aber es dauert, bis Arjouni zum Kern der Geschichte komm. Bis dahin präsentiert er viel Ost-Kolorit, in der Sprache eines gar nicht so dummen 18jährigen, der gerne Superhelden-Comics zeichnet (er selbst ist "Cherryman", der sich in einen Kirschbaum verwandeln kann) und einfach nicht weiss, wie er aus der Ost-Ödnis herauskommen soll. Und als er einen Weg sieht, stehen ihm schon wieder die Nazis im Weg. Arjouni beschreibt die innere Verlotterung der deutschen Ost-Gebiete, die Kultur des Wegsehens, wenn es um Nazis geht, mit viel Witz und Wut. Das Ende, das Rick den Namen "Massakerman" einbringt, ist gut vorbereitet und kommt nicht überraschend. Nach Der heilige Eddie und Chez Max beherrscht Arjouni die kurze Form inzwischen meisterlich. In seinen kurzen bösen Geschichten steht kein Wort zu viel.

Andrej Longo hatte in seinem Erzählungsband Zehn jenes Leben in Neapel beschrieben, das Touristen nicht zu sehen bekommen. Die Geschichten waren voller Ironie und Brutalität, sie beschrieben eine Gesellschaft, in der die Camorra regiert. Diese Erzählkraft hat in Sarahs Mörder an Stärke verloren. Der junge Polizist Acanfora findet zum ersten Mal eine Leiche. Das tote Mädchen heißt Sarah, ist in Acanforas Alter, studierte Tiermedizin und lebte in einem der teuren Viertel Neapels. Niemand in dem Haus, in dem sie lebte und starb, möchte etwas gehört oder gesehen haben. Die Ermittlungen des jungen Polizisten und seines Vorgesetzten, dem Comissario, schleppen sich ergebnislos dahin. Der Comissario erfüllt das Klischee eines Polizisten, der nach einem traumatischen Einsatz Alkoholiker wurde, nun aber weise und trocken ist. Zum Glück macht der unerwartet ironische Schluss des Romans die ermüdenden vorherigen Seiten wieder gut - gerade rechtzeitig bevor das Buch in der Ecke gelandet ist, ohne zu Ende gelesen zu sein.

Mord und Totschlag, wohin das Auge reicht. Sogar in der tiefsten, österreichischen Provinz, namentlich der steirischen Krakau, liegt eine Tote im Wald herum. Das begeistert die LKA-Abteilungsinspektorin Sandra Mohr kein bisschen, denn der Mord geschah ausgerechnet in ihrem alten Heimatkaff. Vor Jahren hat sie es fluchtartig verlassen, um in Graz eine glänzende Karriere zu beginnen, nun muss sie wegen der übel zugerichteten Leiche der Journalistin Eva Kovacs zurück ins ländliche Scheinidyll. Neben den üblichen Ermittlungen entrollt sich das frühere Leben der Ermittlerin. Ein zermürbendes Leben, zwischen bäuerlicher Engstirnigkeit und familiärer Gehässigkeit. Fast bekommt man so etwas wie Mitleid mit dieser Abteilungsinspektorin, die sich hinter einer Lederjacke versteckt, um die giftigen Sticheleien ihrer Mutter besser ertragen zu können. Fast versteht man ihre Wut, wenn sie bei den Bauern auf eine dickschädelige Mauer aus Schweigen trifft. Doch die Kriminalgeschichte bleibt etwas zu dröge, um tatsächliche Gefühle zuzulassen. Auch die Protagonistin bleibt etwas farblos, während sie grantig durch das Alpenland hastet, auf der Suche nach dem Mörder und ihrer persönlichen Unabhängigkeit.( Claudia Rossbacher: Steirerblut).

Peter Temple wurde in Südafrika geboren, lebt inzwischen in Australien und schreibt wie eine zivilisierte Mischung aus James Ellroy und Jerome Charyn - man kann schlechtere Vorbilder haben. Wahrheit setzt die Geschichte um den Mordermittler Stephen Villani fort. Der ist inzwischen Chef der Mordkommission und hat zwei seltsame Fälle am Hals. In einem wird ein junges nacktes Mädchenm in einem Luxus-Appartement-Komplex gefunden, der andere handelt von zwei kroatischen Gaunern, die zu Tode gefoltert in einer Werkstatt gefunden wurden. Dazu gibt es jede Menge private Nöte und ein Meer an Korruption, durch das sich Villani bewegt. Er wird dabei ebenso beschädigt werden wie Charyns Isaac Sidel, der ja in mehreren Büchern vom New Yorker Yop zum Bürgermeister aufstieg und schließlich alles über jeden wusste. Der rüde, direkte Stil ist direkt bei Ellroy abgeguckt. Dass er beiden noch nicht das Wasser reichen kann, merkt man am schwachen, teilweise kitschigen Ende. Aber bis dahin verfolgt man atemlos die verwickelte Handlung in Wahrheit, was übrigens nur der Name eines Pferdes ist.

In Anne Goldmanns Das Leben ist schmutzig geht es um ein altes Haus und dessen Bewohner, der erste Roman-Abschnitt ist allein der Geschichte des Hauses gewidmet, die folgenden zwei Seiten erklären, wie in einem Drama, in welcher Beziehung die Bewohner zueinander stehen und wer in welcher Wohnung lebt. In Episoden und aus wechselnden Perspektiven erzählt, wird jeder Bewohner zu einem Charakter mit Geheimnissen und eigener Geschichte. Und wenn man schon fast vergessen hat, dass der Roman ein Krimi ist, passiert ein Mord, unspektakulär, ohne viel Blutvergießen und zunächst auch unbemerkt. Spannung entsteht trotzdem, weil jeder Hausbewohner irgendwie verdächtig ist. Das funktioniert leise, subtil, melancholisch und mit Witz. Ohne blutiges Gemetzel, Ermittler, große Verschwörungen und komplizierte Kriminaltechnik ist das eine großartige Abwechslung zu den meisten aktuellen Thrillers und Krimis. Das zu lesen ist nicht wie Kino sondern wie Theater im Kopf.

Im Wendland verschwand 1986 ein 16-jähriges Mädchen. Es wurde nie gefunden. Seitdem erscheint immer wieder eine weiße Gestalt an einer Landstraße. Die Journalistin Lea fährt 24 Jahre später in das Dorf, um herauszufinden, wer der mysteriöse Geist an der Straße ist. Sie blickt in die dunkle Vergangenheit einer spießigen Dorfgemeinschaft, in der zwei vernachlässigte Teenager der Eifersucht und gekränkten Eitelkeit der Erwachsenen zum Opfer fielen. Andreas Laudans Das weisse Mädchen wird aus Sicht der jungen Journalistin erzählt, was kein Problem ist, wäre nicht zu merken, dass der Autor ein Mann ist. Lea wickelt sich nach dem Duschen das Badetuch um die Hüften - eher ungewöhnlich für eine Frau. Obwohl sie Journalistin ist, weiß sie nicht, was eine IP-Adresse ist und ihr Sohn googelt für sie den Namen eines Mannes. Außerdem hält sie ständig Zwiesprache mit ihrer "vernünftigen inneren Stimme". Attraktive Männer haben ein "Schuljungenlächeln", bei dem Frauen dahinschmelzen und verzückt erinnert sich Lea, die inzwischen über dreißig ist, an ihr Liebesleben im Alter von 17. Schulmädchenerotik - typisch Mann!

Der Tod der Kitty Genovese ist zwar ein Roman, aber Didier Decoin hat ihn einem wahren Kriminalfall aus den 60ern nachgebaut. Damals war die junge Italienierin Kitty Genovese im Eingang ihres Hauses niedergestochen worden und schrie fast eine halbe Stunde lang um Hilfe. 38 Nachbarn hörten das oder sahen den Mord sogar, und keiner schritt ein oder rief einfach die Polizei, die zur Mordzeit mit mehreren Streifenwagen in der Nähe präsent gewesen war. Um das Geschehen herum baut der Publizist Decoin so wenig Handlung wie möglich, um das heute noch auftretende Entsetzen über diesen Fall und seine Zeugen nicht unnötig zu mindern.

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Gregg Hurwitz: Tödlicher Fehler Aus dem Amerikanischen von Wibke Kuhn. Droemer, München 2011, 443 S., 14,99 / Andrea Camilleri: Der geraubte Himmel Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim. Wagenbach, Reihe Salto, 115 S., 14,90 / Jörg Thadeusz: Die Sopranistin Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 287 S., 14,95 / Friedrich Ani: Süden Droemer, München 2011, 19,99 / Claus-Ulrich Bielefeld und Petra Hartlieb: Auf halber Strecke Diogenes / Zürich 2011, 360 S., 9.90 / David Osborn: Jagdzeit Neu übersetzt von Marcel Keller. Mit einem Nachwort von Frank Göhre. Bielefeld, Pendragon 2011, 274 S., 10,95 / Friedrich Glauser. Die Fieberkurve Wachtmeister Studer ermittelt Kriminalgeschichte mit Menü. Illustrationen von Reinhard Michl. Gerstenberg, Hildesheim 2011, 268 S., 19,95 / Jakob Arjouni: Cherryman jagt Mr. White Diogenes, Zürich 2011, 168 S., 19,- / Andrej Longo: Sarahs Mörder Aus dem Italienischen von Constanze Neumann. Eichborn, Frankfurt a. M. 2011, 191 S., 17,95,- / Claudia Rossbacher: Steirerblut Gmeiner, Meßkirch, 273 S., 9,90 / Peter Temple: Wahrheit Deutsch von Hans M. Herzog. C. Bertelsmann, München 2011, 477 S., 21,99 / Anne Goldmann: Das Leben ist schmutzig Ariadne Krimi, Argument Verlag, Hamburg 2011, 285 S., 11,- / Andreas Laudan: Das weisse Mädchen dtv, München 2011, 330 S., 8,95,- / Didier Decoin: Der Tod der Kitty Genovese Aus dem Französischen von Bettina Bach. Arche, Zürich 2011, 19,50