DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (47. Lieferung)


und hier die vorherige-Ausgabe

Dass ein Folterer mehr Hochachtung für seine Opfer als für die eigene Tätigkeit entwickelt, ist die zentrale Idee in Limassol, einem Nahost-Thriller, der in Tonfall und Moral sehr an John LeCarré erinnert. Verrate ich meine Freunde oder doch lieber mein Vaterland? Mit viel traurigem Witz macht Yishai Sarid (der früher mal für den israelischen Geheimdienst gearbeitet haben will) daraus eine jener hoffnungslosen Storys, an deren Ende nur das Überleben zählt: Ein arabischer Autor soll aus dem Gaza-Streifen gelockt werden. Dafür braucht der Geheimdienst die Hilfe der israelischen Freundin, der man verspricht, ihrem arabischen Freund werde nichts geschehen. Dass es ganz anders kommt, ist nicht überraschend. Der Stil des Buches ist unsentimental, direkt, beeindruckend.

Das Ruhrgebiet ist zwar Kulturhauptstadt, hat aber noch äußerst eklige Ecken. In einer davon sitzt Jörg Juretzka und schickt immer wieder seinen waffenlosen Loser-Detektiv Kryszinski zum Aufräumen los. In Rotzig & Rotzig soll er sich um diebische Einwohner eines Hochhausghettos kümmern, gerät aber schnell in grenzübergreifende Probleme mit Jugendämtern und Kinderschändern. Die wachsen sich zu einem furiosen Action-Spektakel aus, inkl. Flugzeugstopp auf der Rollbahn und Kryszinski erstmals an der MP. Will Juretzka jetzt zum Film?

Nach Walhalla Code kommt jetzt Odessa-Komplott, wieder ohne Artikel, damit man Uwe Klausner nicht mit Robert Ludlum verwechselt. Und wieder mit einer Akte, die während der Hitlerzeit verschwindet. Diesmal klaut Bormann sie Himmler im Führerbunker und benimmt sich schweinisch gegenüber einer Sekretärin. Nach dem Krieg treten die Werwolfgruppen und ein paar Schwarzhändler auf, Lucius D. Clay liefert Zeitkolorit, und der Held von Walhalla Code klärt jetzt einen Mord auf, hinter dem irgendwie die Akte steckt. Das ist alles gut gemeint aber grauselig gemacht. Es wimmelt von Sätzen wie: "Auf der einsamen Waldlichtung kehrte atemlose Stille ein" oder gar "Im Begriff, eine Antwort zu geben, wurde Kuragins Absicht durch das Leuten des Telefons durchkreuzt." (Odessa-Komplott Gmeiner, Meßkirch 2010, 278 S., 11,90)

Schneller als der Tod ist zwar ein doofer Titel (das hieß mal "Beat the Reaper"), dafür ist Josh Bazell ein ziemlich origineller Autor, dessen Held nicht nur Arzt sondern auch Ex-Killer der Mafia ist. Die Gesichte spielt an einem einzigen Tag im Krankenhaus, wo sich durch Rückblenden und aktuelle Ereignisse eine komplette Heldenbiografie entwickelt, die in Auschwitz beginnt und in New Jersey ihr vorläufiges Ende findet. Die Mafia-Teile des Romans klingen wie die Sopranos, richtig derbe sind die Mediziner-Witze und Anekdoten über Krankenhäuser. Etwa über den Chirurgen, der seine eigenen Blutkonserven mit in den OP nimmt, damit er nicht angeben muss, wie viel Blut der Patient verloren hat. Oder warum alle Wasserbehälter immer "5 % Dextrose" enthalten? - so muss man eben nicht 35 Dollar für hundsgewöhnliches Leitungswasser" auf die Rechnung setzen. Das Ende ist so martialisch wie die erste Saw-Folge.

Mit ihrem ersten Roman Tödlicher Hermannslauf ist Renèe Pleyter vor allem bekannt geworden, weil die Hermannslauf-Veranstalter ihr den Titel verbieten wollten. Für ihren zweiten Krimi Der Mann vom Jahrmarkt hat sie sich nun eine Handlung ausgedacht, für die sie in ganz Westfalen, von Münster bis Paderborn, verklagt werden könnte. Auf Send und Pollhans, Libori und Sünne Peider, Leinewebermarkt und Glückstalertagen treibt sich nämlich jemand herum, der schönen Mädchen was ins Bier kippt und später weniger schöne Fotos von den Beduselten macht. Der besondere Erzählungs-Dreh: Von Anfang an kennen wir den Täter und sein Motiv, jedenfalls so gut wie er selbst. Die Polizei kommt eigentlich nur vor, um ein paar Karussells und Bierzelte auszuprobieren. Und um sich sehr zu erschrecken, wenn sie endlich von außen in die blinden Abgründe einer Spülknechtsseele blicken kann, die wir von innen schon länger nicht mehr ertragen.

Ein nachdenklicher Kommissar, der in einem Fischerdorf den wortkargen Einwohnern anlässlich eines Mordes die Dorfgeheimnisse entlockt - das ist als Plot derart verbraucht, dass es auf gut 450 Seiten kaum zu ertragen ist. Selbst wenn es so schön geschrieben ist wie Strand der Ertrunkenen von Domingo Villar, dessen Kommissar zwar viel denkt und redet, letztlich aber nichts zu sagen hat, außer so tiefgründige Readers Digest-Sentenzen wie "Vor den Toten hatte er keine Angst, die Lebenden machten ihm Sorgen" Sag bloß!

Der erste Krimi von Lukas Erler handelt von der Verschmutzung der Meere durch verantwortungslos undichte Öltanker und dem womöglich noch dreckigeren Geschäft großer PR-Firmen, alle Skandale wegzulobbyieren. Leider löst Ölspur seinen Rechtschaffenheitsvorsatz nur ungelenk durch lange Erklär-Monologe ein. Viel mehr Spaß hatte der Autor daran, seinen Helden, der natürlich zufällig auf die Umwelt-Mafia stößt, immer wieder schwer verprügeln und dann brutalstmöglich zurückschlagen zu lassen. Der Kontrast von Volkshochschule und blanker Rache lässt den Roman stark schwanken, so als bebe der Autor noch immer vor Wut.

Das Aufregendste an Stadt der Verlierer ist, dass der Autor Daniel Depp ein Bruder des Schauspielers Johnny Depp ist. Ansonsten ist der Krimi um den Ex-Stuntman Spandau eine gute Kompositionsarbeit, in die Dashiell Hammett, Kinky Friedman und Dave Barry Eingang fanden.

Das ebenso touristisch wie theologisch in unbekannte Ecken der Türkei führende Paragraf 301 von Wilfried Eggers (nominiert für den Glauser-Preis 2008) ist jetzt als Taschenbuch erschienen. Im Nachwort bedankt sich der Autor bei den Lesern der Hardcover-Ausgabe für Korrekturen kleiner Fehler bei der Darstellung der alevitischen Religion.

Eigentlich schreibt Patrick Pécherot Comics und Jugendbücher. Nebel am Montmatre ist sein erster Krimi. Der handelt in wuchtigen Bildern (gleich zu Beginn finden Safeknacker im Tresor eines Grafen eine Leiche) und mit schnellen Schnitten anspielungsreich verschlüsselt die Jugendjahre von Léo Malet bzw. Nestor Burma, Malets späterem Krimi-Helden. André Breton und Antonin Artaut treten als Nebenfiguren auf, Surrealisten und Anarchisten saufen sich durch das Paris von 1926, und hinter jedem zweiten Satz lauert ein Wortspiel, das nur Franzosen und Literaturkundige goutieren können. Jeden Anflug von Historienschwelgerei vermeidet Pécherot durch Hektik. Immer wieder springt er von nur angedeuteten wilden Künstlerabenden, Boxveranstaltungen oder Liebesabenteuern gleich zur nächsten Szene. Das strengt etwas an. Man sollte das angehängte Glossar wohl als erstes lesen, um die gröbsten Stolpersteine auszuräumen. Etwa: Was ist ein "cadavre exquis"?

Von Paco Ignacio Taibo II liegt jetzt erstmals Der Schatten des Schattens vor, der 1986 verfasste Vorgänger des fulminanten Revolutionsromans Die Rückkehr der Schatten, der 2004 erschien. Nun kann Taibo gar nicht langweilig schreiben, und auch hier kriegt man eine schöne Handvoll revolutionärer Verrücktheiten geboten, aber im Vergleich zur "Rückkehr" ist das hier noch brav komponiert, gradlinig erzählt, eher bieder. Vier Freunde - ein Anwalt, ein Dichter, ein Journalist und ein Tischler - saufen und prügeln sich durch das Mexiko der 20er Jahre. Keinen Streit auslassend, immer auf der Seite der Unterdrückten und bereit, anderen Freunden zu helfen, geraten sie in allerlei kleine Komplikationen mit allerlei Toten am Wegesrand. Vielleicht liegt es auch an der uneleganten Übersetzung, dass der Roman nicht so recht in Schwung kommen will.

"Zu einer Zeit, in der in der Kriminalliteratur um Jerome Charyn herum gerade erst die Realität der Polizeikorruption als neue Scheidelinie zwischen Gut und Böse zum Thema gemacht wurde, schuf er mit Isaac Sidel einen Cop, der Verbrecher und Polizist in einem war, einen Mann, der eigenen Gesetzen und einer eigenen Moral gehorchte." - schreibt Tobias Gohlis in seinem Nachwort zu Das Isaac Quartett von Jerome Charyn und meint damit selbstverständlich die 70er und den bösen Bullen Isaac Sidel, der es inzwischen, im 10. Band der Serie, zum Vizepräsidenten gebracht hat und von dem nicht sicher ist, ob Charyn ihn in den angekündigten Folgebänden noch zum Papst oder gar zu Gott machen wird. Die ersten vier Bände, zusammengefasst jetzt im Isaac Quartett, sind immer noch spannend zu lesen und beschreiben den Auftritt eines Mannes, gegen den Dirty Harry (der etwa zur selben Zeit auftrat) nur wie ein schlechtgelaunter Schülerlotse anmutet. Und weil Charyn schreiben kann wie kaum einer, sind seine Sidel-Romane faszinierend abgründige Seelenerkundungen und geben den Blick frei auf einen Verzweifelten, der sich immer wieder in die Schlacht wirft, weil er an etwas glaubt, das besser ist als er. Und der am Ende immer feststellt, dass er aus den falschen Gründen gewonnen hat, zum Nachteil der Welt.

Ein deutscher Krimiautor mit Verstand, Geschmack und einem Händchen für Plots: Linus Reichlin hat mit seinem zweiten Roman Der Assistent der Sterne um den (Ex-)Polizisten Jensen die Höhe gehalten, die er mit der Sehnsucht der Atome festgelegt hatte. Neben einem wunderbar verwickelten Familiendrama und der Angst eines 50jährigen, die letzte Liebe seines Lebens zu verpassen, bekommen wir unerhört kluge und poetische Vorträge geboten über Quantenverschränkung, die Unmöglichkeit, die Zukunft zu kennen und über die Einsamkeit des Universums. Und es hat ein Ende, das fast ein bisschen nach Josef Conrad klingt. Einzig der Titel ist vollkommen bescheuert.

-aco/thf/w-
Yishai Sarid: Limassol Aus dem Hebräischen von Helene Seidler, Kein & Aber, Zürich 2010, 206 S., 16,90
Jörg Juretzka: Rotzig & Rotzig Rotbuch, Berlin 2010, 253 S., 16,95
Josh Bazell: Schneller als der Tod aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch. S. Fischer, Frankfurt 2010, 303 S., 18,95
Renèe Pleyter: Der Mann vom Jahrmarkt Pendragon, Bielefeld 2010, 304 S., 10,95
Domingo Villar: Strand der Ertrunkenen Aus dem Spanischen von Carsten Regling, Unionsverlag, Zürich 2010, 477 S., 19,80
Lukas Erler: Ölspur Kein&Aber, Zürich 2010, 356 S., 16,90
Daniel Depp: Stadt der Verlierer Aus dem Englischen von Regina Rawlinson, C. Bertelsmann, 317 S., 19,95
Wilfried Eggers: Paragraf 301 Grafit, Dortmund 2010, 476 S., 11,00
Patrick Pécherot: Nebel am Montmatre Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Katja Meintel. Edition Nautilus, Hamburg 2010, 199 S., 14,90 / Paco Ignacio Taibo II: Der Schatten des Schattens Aus dem Spanischen von Harry Stürmer, Assoziation A., Berlin 2010, 228 S., 18,-
Jerome Charyn: Das Isaac Quartett Das Isaac-Quartett: Blue Eyes, Marilyn The Wild, Patrick Silver, Secret Isaac. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger, Ursula Gnade und Peter Torberg. Mit einem Nachwort von Tobias Gohlis. Rotbuch, Berlin 2010, 811 S., 16,96
Linus Reichlin: Der Assistent der Sterne Galiani, Berlin 2009, 379 S., 19,95