DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (46. Lieferung)

JAHRZEHNT DER MÖRDER


und hier die vorherige-Ausgabe

Mehr als 2000 Seiten stark ist James Ellroys "Underground"-Trilogie inzwischen geworden, in der er die Politik der 60er Jahre beschreibt. Beginnend mit Ein amerikanischer Thriller und dem Mord an JF Kennedy, widmete sich Ein amerikanischer Alptraum den Morden an Martin Luther King und Robert Kennedy. Und jetzt liegt als Abschluss Blut will fließen vor. Alle drei Romane haben übrigens im Original sehr viel intelligentere Titel.

Jetzt also, am Ende jenes Jahrzehnts, in dem alles möglich zu sein schien und alles nur schief ging, ist Ellroys Personal mit Aufräumarbeiten befasst. FBI-Chef Hoover, schwer debil aber immer noch im Zentrum der Macht, lässt alle Spuren verwischen, die auf eine FBI-Beteiligung der politischen Morde hinweisen könnten. Gleichzeitig inszeniert er Flügelkämpfe innerhalb der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und versucht, schwarze revolutionäre Organisationen wie die Black Panthers in den Heroinhandel hineinzuziehen. Die Kommunistenfresser um den spleenigen Milliardär Howard Hughes kämpfen zwar immer noch gegen Castro, haben aber kurzfristig aufgegeben und errichten, zusammen mit der Mafia, neue Kasinos in der Dominikanischen Republik, die dafür wenigstens oberflächlich demokratisiert werden muss (das Vorgehen der von den USA inthronisierten Schlägerbande gegen das eigene Volk gehört immer wieder zu den brutalsten Momenten in Ellroys durchgehend schockierendem Roman). Beide Fraktionen haben eifrig für den Wahlsieg von Richard Nixon getrommelt, der Hughes die Lizenzerwerbung für seine Kasinos per Gesetz erleichtern soll und der eine Heidenangst vor Hoover hat, der ein dickes Dossier über Nixon hat.

Wie in den Vorgänger-Büchern geht Ellroy seine Geschichte in einer Mischung aus Erzählung, innerem Monolog und (erfundenen) Dokumenten an und legt dabei ein Tempo vor, als wolle er seine Geschichte auf 100 Seiten erzählen. Dass die knapp 800 Seiten dann nie langweilig werden, liegt daran, dass Ellroy nicht nur ein großer Paranoiker, sondern auch ein gewiefter Schriftsteller ist. Seine Technik der vollkommenen Verknappung, der kurzen Sätze, treibt seine Geschichte beständig voran. Und weil Ellroy zwar mit Klischees arbeitet, seinen Helden aber ein komplexes Innenleben gestattet, fiebert man ihrem Untergang entgegen. Denn alle die brutalen weißen Männer, die hier aufmarschieren, haben einen schweren Hau. Der King-Mörder Wayne, der Absolution sucht, in dem er seine Auftraggeber Hughes und Hoover sabotiert, der alte FBI-Agent Holly, der heimlich Linke aus dem Knast holt und gleichzeitig Heroin an die Panthers liefert, der drogensüchtige Clutch, der als Handlanger der Bösen üble Erfahrungen mit den Tonton Macoutes auf Haiti macht und eigentlich einen Jahre zurückliegenden Überall aufklären will, mit dem Ellroy sein Buch beginnen lässt. Blut will fließen ist nicht nur eine komplexe, eigenwillige Ausdeutung des Mörderjahrzehnts der 60er, es ist einfach auch ein verflixt spannender Thriller.

Was war denn bloß auf der Estonia los? Gerne wüssten wir, was wirklich 1994 zum Untergang der Fähre führte. Notfalls läsen wir auch Thriller um schwedische Waffenschmuggler und finnische Dopinghändler. Tödlicher Sog von Ilkka Remes weckt sogar Extrainteresse, weil er anfangs von einem Rennfahrer mit schwachem Nacken handelt, der Mittel zur Muskelkräftigung einführt. Aber dann hält der sich für den Mörder seiner Freundin, lässt sich von Dunkelmännern zu einem Diebstahl drängen und manipuliert fast seinen Bruder in den Knast, weil dessen Leben eh schon verpfuscht ist. Huh, Psychologie. Der Fall Estonia kommt erst langsam an die Oberfläche und wird nach etwas Agenten-Action schnell wieder in den Geheimdienstarchiven versenkt. Neue Erkenntnisse kriegen wir nicht.

Nochmal Finnland, nochmal Geheimdienst, aber diesmal als Polizeibericht: Harri Nykänen startet mit Ariel - Mord vor Jom Kippur eine ganze Serie um einen jüdischen Kommissar in Helsinki. Der hat ein bisschen Stress mit seiner Gemeinde, der er zu unjüdisch ist, und viel Lauferei mit ein paar Arabern, die plötzlich tot in der Stadt herum liegen. Streit unter Terroristen? Ein Bandenkrieg? Oder brachte der israelische Mossad sie um? Ganz konventionell muss Ariel Kafka allen Spuren nachgehen, Druck von Vorgesetzten aushalten und schöne Theorien verwerfen, wenn neue Fakten auftauchen. Nykänen macht alles richtig, bleibt unspektakulär, versinkt auch nicht im Realismus und lässt am Ende die Gemeinde das Problem selbst regeln.

Die Stunde des Schakals behandelt nicht nur einen historischen Mord, er benennt auch Personen, die damit in Verbindung stehen: Anton Lebowski, weißes Mitglied der namibischen SWAPO, wurde 1989 von einem Kommando des südafrikanischen Geheimdienstes ermordet. Bernhard Jaumann, ein in Namibia lebender Deutscher, hat seinen Roman so gebaut, als ließe sich dieser Mord nach 20 Jahren endlich aufklären. Dafür benennt er Personen, die damals unter Verdacht standen und heute unbehelligt in Südafrika leben. Personen, nebenbei, von denen Jaumann erzählt, dass sie gerne Leute verklagen, die sie als Kriminelle hinstellen. Die Stunde des Schakals bezeichnet sie, rein fiktiv, als Mörder. Aber nicht nur wegen dieses Mutes ist der Roman lesenswert, er ist auch aus sich heraus schlüssig und spannend und stellt eine junge schwarze Polizistin als Heldin vor, die in Namibia manchmal Probleme hat, rechtzeitig am Tatort zu erscheinen, weil es gerade mal wieder keinen freien Wagen auf der Polizeiwache gibt. Die eher komödiantischen Szenen mit Lokalkolorit stehen der ernsthaften Suche nach jenem Mann, der die Killer von damals der Reihe nach umbringt, etwas im Wege. Dennoch ist Die Stunde des Schakals ein spannender, glaubwürdiger Roman über eine Ecke Afrikas und deren Geschichte, die gerade hier gerne vergessen wird; immerhin war Namibia mal deutsches Kolonialgebiet.

In Nazi Paradise kommen jede Menge Scheißneger, Judensäue, Schlampen und Zecken vor. Trotzdem ist die kleine Novelle von Angelo Petrella mehr als die Zusammenfassung der Ansichten eines Nazi-Prolls. Der Skinhead-Held des Romans ist zwar bekennender Hooligan, Hacker-König und Nazi, trotzdem sitzt er irgendwann mit einem Autonomen zusammen und überlegt, wie man sich gegen die Cops wehren kann. Hineingezogen in eine Polizeiverschwörung kommen einem der Plot und die Figurenführung ziemlich naiv vor. Aber erstens ist die Szene in Italien eine andere als hier, auch die Polizei ist weniger enthemmt und brutal, und außerdem ist Petrellas Verzicht auf political correctness erfrischend, weil sie den schockierten, braven Leser fein an der eigenen Nase herumführt und ihm zu Erkenntnissen über die wahren Machtverhältnisse verhilft. Außerdem ist Nazi Paradise eines der wenigen Bücher, in denen Hacker-Attacken halbwegs korrekt dargestellt werden.

Dies sei kein autobiografischer Roman, behauptet Dan Wells über Ich bin kein Serienkiller. Was soll ein Mormone auch sonst sagen über ein Buch, in dem ein seelisch gestörter Teenager in sich die Tendenz zum Leuteaufschlitzen entdeckt? Als in seiner Kleinstadt plötzlich grässlich verstümmelte Leichen herumliegen, macht sich John ernste Sorgen. War er es, irgendwie umnachtet? Ist sein theoretisches Interesse an Serienmördern krankhaft? Kann man als Sohn einer Bestatterin überhaupt normal sein? Der Ton ist eher jugendbuchhaft und hält erstaunlicherweise die Spannung, als John schon früh den wahren Täter entdeckt. Sogar eine Wendung ins Fantasy-Genre und der Auftritt echter Dämonen lässt das heranwachsend verwirrte Herz des Buchs intakt. Die Frage, ob er es hätte sein können, ist erheblich spannender als der lange Umweg zur Ergreifung des Bösen.

Schon nach seinem ersten Roman wurde Steve Mosby als neue große englische Thriller-Hoffnung gefeiert. Über fast die ganze Strecke erfüllt sein zweiter, Tote Stimmen, die Prognose. Jemand fängt junge Frauen und lässt sie kläglich verdursten, während er ihre Bekannten mit fingierten Anrufen und SMSsen über deren Abwesenheit hinwegtröstet. Ein Polizist, ein Opfer frühen Kindesmissbrauchs, und ein Journalist, der sonst Mentalmagier enttarnt, kommen mit der Mordserie in Berührung. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, jeder hat Interessen auch neben dem Fall, und jeder mögliche Täter kann es nicht gewesen sein. Der Autor erzählt aus wechselnden Perspektiven und lässt genug Platz zwischen den Kapiteln, damit sich jeder selbst fragen kann: Lasse ich meine Freunde so lange allein, dass sie darüber sterben könnten? Leider braucht er am Ende einen fiesen Trick (eine Person hat ihren Namen geändert), um die spannende Verwirrung halbwegs logisch zum Showdown hinzubiegen.

Harper Connelly wird in eine Kleinstadt namens Doraville in North Carolina gerufen. Sie soll die Leiche eines verschwundenen Jungen finden. Seit sie von einem Blitz getroffen wurde, ist sie in der Lage, tote Menschen aufzuspüren und mit ihnen in Kontakt zu treten. Schnell findet sie den gesuchten Jungen, und sieben weitere. Sie alle wurden missbraucht und gefoltert. Es muss also einen Serienkiller in der verschlafenen Kleinstadt geben, doch ihn zu finden ist nicht Harpers Aufgabe. Als sie wieder abreisen will, wird sie von einem Unbekannten niedergeschlagen und landet im örtlichen Krankenhaus. Nun scheint der Mörder auch hinter ihr her zu sein. Ein eiskaltes Grab ist der dritte Roman, in dem Autorin Charlaine Harris ihre Protagonistin mit den übernatürlichen Kräften auf Mörderjagd schickt. Ohne übertriebene Séancen mit Gläserrücken oder zitternden Totalausfällen inklusive Augenverdrehen macht Charlaine Harris es möglich, dass auch Leser Gefallen an ihrem Schauerkrimi finden, die sich sonst nicht für Mystery-Thriller begeistern können.

Der dünne Roman Noch eine Frage bis zum Tod von Antje Friedrichs geht auf eine wahre Begebenheit zurück. Die bundesweit eher unbekannte Autorin von allerlei "Inselkrimis", die auf Langeoog oder Norderney spielen, hat es mal zusammen mit ihrem Sohn in die TV-Quiz-Show "Wer wird Millionär?" gebracht und einiges Geld da abgeräumt. Jetzt lässt sie eine Frau und einen Youngster zu "Das Super-Quiz" fahren und dort während der Probe den Moderator tot umfallen. Der Hintergrundbericht aus dem Medienzirkus ist nett flapsig geraten, der Sohn kommt eigentlich nur zur Verwirrung vor, und die Hauptperson hat mit der Aufklärung gar nichts zu tun. Das ist natürlich ein Konstruktionsfehler, aber Reiseunternehmer, die Zuschauerplätze bei Quizshows vermarkten, sollten dieses Romänchen durchaus in ihr Event-Bundle packen.

Eigentlich ist Madeline Dare Journalistin, dass sie einmal als Hilfslehrerin in einem Internat für schwererziehbare Jugendliche arbeiten würde hatte sie nicht geplant. Aber genau das tut sie jetzt, im November 1989. An der Santangelo Acadamy in den Bergen von Massachusetts gelten strenge Regeln, an die sich größtenteils auch die Lehrer halten müssen. Es darf nicht geraucht, kein Kaffee oder Alkohol getrunken werden und regelmäßige Gruppentherapiesitzungen sind obligatorisch. Der Alltag an der teuren Privatschule hat sektenähnliche Züge. Eines Abends kommen zwei der Teenager durch eine Vergiftung ums Leben. Langsam erkennt Madeleine, dass die Strukturen des Internats noch kranker sind als angenommen. Außer der sarkastischen Heldin scheinen alle verdächtig zu sein, und erst am Ende durchschaut der Leser endlich, was in der Santangelo Academy wirklich vor sich geht. Geschickt verknüpft Cornelia Read in Es wartet der Tod das pädagogische Konzept des Internats mit der Sekte Peoples Temple, deren Anhänger sich auf Geheiß ihres Anführers Jim Jones im November 1978 in Jonestown das Leben nahmen.

Ganz schwere Kost in wundervoll flüssiger Sprache serviert Pablo De Santis in Das Rätsel von Paris. Am Vorabend der Weltausstellung 1889 treffen sich die berühmtesten Detektive der Welt in Paris, um den Triumph der Aufklärung zu feiern. Einer fällt vom neu errichteten Eiffelturm und der Rest zerstreitet sich über die angemessenen Methoden zur Ermittlung jetzt und zur Erlangung von Erkenntnis überhaupt. Der Argentinier De Santis schreibt eigentlich gar keine Krimis, sondern philosophische Romane für Leute, die Eco kennen und von Borges wenigstens gehört haben. Er versteckt ironische Anspielungen hinter schwelgendem Historismus und lässt ausgerechnet einen Detektiv-Schüler herausfinden, dass der "wissenschaftliche" Zugriff der Ingenieure auf die Welt von ihrem eigentlichen Geheimnis ablenkt.

Lang ist's her. 1944 erstach der junge Lucien Carr seinen älteren Freund, möglicherweise auch Liebhaber, in New York und tauchte kurz darauf verwirrt bei Jack Kerouac und William Burroughs auf. Die beiden wollten damals junge Schriftsteller werden, hatten aber noch nichts veröffentlicht. Sie übergaben Carr der Polizei und schrieben seine Tötungsgeschichte zu einem Hard-Boiled-Krimi im Stile Dashiell Hammetts um, wechselten sich dabei kapitelweise ab und fanden keinen Verleger. Später gingen sie unterschiedliche Wege, die Episode wurde in mehreren Büchern der Beat-Generation verarbeitet, Lucien Carr wurde nach kurzer Haft ein gefeierter Nachrichtenredakteur und erst jetzt erscheint Und die Nilpferde kochten in ihren Becken erstmals auf Deutsch. Als Krimi ist das unbefriedigend, weil keine Figur darin an der Restauration der Verhältnisse interessiert ist. Als Zeitdokument ist das aus dem selben Grund hinreissend. Sprachlich sind die Hippos (heißen eigentlich die Hippies später nach ihnen?), noch etwas unausgereift. Andererseits schrieben Kerouac und Burroughs damals, 10 Jahre vor "On the Road" und "Naked Lunch", zum letzten Mal halbwegs traditionell. Das lange Nachwort empfiehlt, sich den Film "Joe Goulds Geheimnis" zur Illustration der Verhältnisse damals anzusehen.

-aco/jh/vl/thf/w-
James Ellroy: Blut will fließen Aus dem Amerikanischen von Stephen Tree, Ullstein, Berlin 2010, 783 S., 24,90
Ilkka Remes: Tödlicher Sog Aus dem Finnischen von Stefan Moster. DTV, München 2010, 458 S., 14,90
Harri Nykänen: Ariel - Mord vor Jom Kippur Aus dem Finnischen von Regine Pirschel. Grafit, Dortmund 2009, 282 S., 17,90
Bernhard Jaumann: Die Stunde des Schakals Kindler bei Rowohlt, Reinbek 2010, 319 S., 19,95
Angelo Petrella: Nazi Paradise Aus dem Italienischen von Bettina Müller Renzoni, Pulp Master, Berlin 2010, 118 S., 12,80
Dan Wells: Ich bin kein Serienkiller Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski. Piper, München 2009, 378 S., 12,95
Steve Mosby: Tote Stimmen Aus dem Englischen von Doris Styron. Droemer-Knaur, München 2010, 397 S., 16,95
Charlaine Harris: Ein eiskaltes Grab Ins Deutsche übersetzt von Christiane Burkhardt, dtv, München 2010, 304 S., 8,95
Antje Friedrichs: Noch eine Frage bis zum Tod Prolibris, Kassel 2009, 175 S., 9,90
Cornelia Read: Es wartet der Tod Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, 340 S., 14,90
Pablo De Santis: Das Rätsel von Paris Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke. Unionsverlag, Zürich 2010, 316 S., 19,90)
Jack Kerouac/William Burroughs: Und die Nilpferde kochten in ihren Becken Aus dem Englischen von Michael Kellner. Nagel & Kimche/Hanser, München 2010, 190 S., 17,90