DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (45. Lieferung)

Männer ganz unten


und hier die vorherige-Ausgabe

Pascha ist wieder da. Jutta Profijt setzt mit Im Kühlfach nebenan ihre ungewöhnliche deutsche Geister-Krimi-Idee von "Kühlfach 4" fort. Dort liegt immer noch der störrisch abgelebte Kleinkriminelle aus Band 1, der inzwischen mit seinem Amtsarzt emailen kann und ernsthaft einen Prolog damit beginnt, über den Sinn von Prologen in Kriminalromanen nachzudenken. Und den Roman mit der Bemerkung beendet, jetzt noch zwei Kapitel schreiben zu wollen, bevor er wieder als Geist über dem Rhein in Köln auf Trebe geht. Dazwischen hat er ein Verbrechen aufgeklärt, das ihm eine ermordete Nonne als vorübergehende Geister-Nachbarin bescherte. Band 3 ist offenbar schon in Arbeit.

Ein Mann auf der Flucht: Weil er einen Diktator über das Zielfernrohr seiner Jagdgewehrs anvisierte, wird ein Mann fast zu Tode geprügelt, kann fliehen und muss sich fortan verstecken. Male Rogue, geschrieben Ende 30er Jahre, gehört durchaus ein eine Reihe mit den damaligen Ambler-Romanen; nicht so elegant, keine elaborierte Geschichte wie beim Meister, aber Geoffrey Households Roman ist von ähnlicher politischer Erregung durchdrungen wie Amblers Romane. Der Kniff des Romans, der aus gut 150 Seiten Flucht besteht, besteht in der allmählichen Enthüllung durch den Ich-Erzähler, der uns Lesern längst nicht alles erzählt hat. Dass der anfangs anvisierte Diktator übrigens Hitler sein könnte, wird mehr als angedeutet. Unter dem Titel Einzelgänger männlich - Er jagte den Tyrannen der die Welt bedrohte hat Kein & Aber das wieder aufgelegt.

Endlich geht ein Buch mal wieder einfach los. In Jamie Frevelettis Debüt-Thriller Lauf stürzt ein Flugzeug im kolumbianischen Dschungel ab und gleich darauf überschlagen sich Handlunsstränge und Fertigbau-Plots. Der Absturz ist ein Anschlag, man weiss nur nicht von wem. Die Heldin hat was mit Pflanzengenetik und Dauerlaufen zu tun, Guerilla, Drogenmafia und amerikanische Berater jagen einander, geheime Drahtzieher enthüllen verborgene Motive, ein weiser Indianer murmelt was, psychoaktive Pilze spielen mit, und wenn die Heldin nicht auch noch einen Super-Agenten am Wege fände, könnte sie am Ende wohl die Welt nicht retten. Immerhin haben aber Frauen fast überall starke Rollen im Buch und man sähe gern den Film.

Zwei Männer sitzen in einer brasilianischen schwülen Nacht auf einer Terasse und reden. Beide haben durch Liebe ihr Leben ruiniert. Der eine schmachtet seit 16 Jahren völlig hoffnungslos eine Kollegin an, der andere, der Erzähler, hat eine leidenschaftlich selbstzerstörerische Affäre mit der Frau des Pastors. Das ist die Ausgangslage von Flieh. Und nimm die Dame mit von Marcal Aquino, der hier ein Feuerwerk an Idee abbrennt und sie alle hübsch zu einer bösen Geschichte verdrillt, an deren Ende ein Teil des Personals ziemlich tot sein wird. Nebenbei schaut auch noch ein ortsbekannter Killer vorbei, in den Bergwerken wird gestreikt, und der Polizist des Dorfes hat eh ein Auge auf den Erzähler geworfen, obwohl der ihn als Freund betrachtet. Die Titelzeile des Buches ist übrigens ein Satz, der die Katastrophen erst auslöst und der ganz anders gemeint war.

Da muss man erstmal drauf kommen: Einfach alle Anführungszeichen weglassen, bei den Dialogen nie dazu schreiben, wer gerade redet, und dann auch noch in der Mitte des Buches anfangen. Dabei wäre Charlie Hustons Clean Team auch in Normalform noch aufregend. Immerhin lässt er seine Leute einen wilden Straßenslang sprechen, der Klugscheisserei mit rüpeliger Schulhofhärte mischt. Und sie in einen Milieu arbeiten, in dem man sich keinen Bandenkrieg vorstellen mag: Unter Tatortreinigern. Wir erfahren viel über Leichenwegwäscherei und einiges über Mandelschmuggel, und die Hauptperson, ein verkrachter Jung-Lehrer ohne Perspektive, erfährt einiges über Freundschaft.

Ein Krimi, in dem es um Abfallentsorgung, Börsenhaie, Pharmafirmen und Chinesen geht, kann gar nicht schlecht sein, schon gar nicht, wenn er - wie Im Schlund des Drachen - in New York spielt. Wobei die große Leistung von Colin Harrison nicht nur darin besteht, die Themen aufs schlüssigste miteinander zu verdrillen, sondern auch Personen zu schaffen, die für die jeweiligen Komponenten stehen. Einzig der omnipotente und voll gute Feuerwehrmann ist ihm zu gerade geraten, der ist so gut, das gibt's gar nicht. Aber der Rest des Ensemble hangelt sich von Habgieranfall zu Habgieranfall und erinnert dabei manchmal an das leicht durchgeknallte Personal von Elmor Leonard. Im Schlund des Drachen ist ein echter Jahresendhöhepunkt.

Sandra Lüpkes schreibt seit Jahren nicht nur Regional- sondern auch Kurzkrimis. In Hermanns Schatten enthält nun 13 regionale Kurzkrimis, oder besser: Kurzgeschichten mit Toten. Meist kommt sie dabei ohne Polizei aus, oft erzählen die Täter selber, und fast immer sind die Geschichten genau so lang, wie Plot-Konstruktion oder Erzähler-Figur interessant bleiben. Ausserdem kommt man in ganz NRW herum, weil sich Sandra Lüpkes, neulich von der Nordseeküste nach Münster verzogen, hier gleich mörderisch heimisch machen wollte, vom Monschau bis Minden, von der Aa bis an die Lippe.

Wie man an einem einzigen Tag sein Leben versiebt (und überhaupt nichts dafür kann) hat Jim Nisbet in Dunkler Gefährte aufgeschrieben. Der indische Amerikaner Banerjhee Rolf bereitet seinen Umzug nach Chicago vor, seine Frau ist schon mal vorgefahren, und jetzt wäre fast alles in Ordnung, wäre da nicht der komische Proll-Nachbar und seine nackt herumlaufende Hippie-Tusse, die irgendwas von Banerjhee wollen. Sie laden ihn auf ein oder zwei Martinis ein, der Nachbar schaltet den Porno-Kanal ein, über den sich plötzlich bilder von 9/11 legen. Die Novelle beginnt mit einer geradezu enervierenden Ruhe und biegt in ein Ende ein, das vollkommen überraschend (und vollkommen glaubwürdig!) daherkommt. Und wenn dieses Ende da ist und ein paar Leute tot herumliegen, setzt Nisbet noch einen drauf. Das darf man nicht mal ansatzweise verraten, wer Bücher mit Happy End liest sollte woanders hinlesen, wer den Mut zu Überraschungen hat, der kommt hieran nicht vorbei.

Tz, Tz, jetzt fangen sogar Sachbücher spannungssteigernd mit Vorausgriffen an, etwa John Follains Die letzten Paten mit einer Autofahrt des Richters Falcone, dem wir im Mai 1992 dabei zuhören, was er über seine Erfolge gegen die Mafia denkt. Dann denken einige Mafiosi über die Bombe an Falcones Weg nach. Ein Finger legt sich auf einen Knopf. Und dann erzählt Follain lang und breit, wie 1905 in dem kleinen Städtchen Corleone der gleichnamige Clan entstand, wie er immer mächtiger wurde, was der Staat dagegen unternahm, wie sich die Cosa Nostra wehrte und wie sich änderte. Immer wieder schiebt Follain romanhafte Passagen zwischen seine Archiv-Recherchen, schwelgt in persönlichen der diversen Bosse und bleibt am Ende skeptisch. Die Corleones sind untergegangen, die Mafia aber wird bleiben, solange der Staat weniger vertrauenswürdig als die Bruderschaft ist.

Der Steuerfahnder Manfred Büttner hat zusammen mit der Journalistin und Krimi-Autorin Christine Lehmann ein Buch geschrieben, das demnächst auf jedem Krimi-Leser-Nachttisch zum Nachschlagen liegen will. Oder auf den Schreibtischen von Krimi-Autoren. Von Arsen bis Zielfahndung erklärt etwa ausführlich, wie man eine Leiche öffnet oder wie man jemanden zur Leiche macht. Aber auch, wie eine polizeiliche Ermittlung genau aussieht oder was ein Profiler wirklich tut, wenn er nicht gerade im TV auftritt. Zuweilen zitieren sie "Fälle" aus der Literatur, zuweilen auch selbst ausgedachte Romanpassagen, um den Unterschied von dramatischer Erzählung und mühsamer Realität zu verdeutlichen. Sie wollen keinem den Spass an genialen Gerichtsmedizinern oder rüpeligen Verhörspezialisten nehmen, bestehen aber darauf, dass gute Romane durchaus wahrer sein könnten.

Die Mode hört nicht auf: Krimi trifft Kulinarik. Aber statt ein kreatives Krossover von CSI und Brutzelshow anzurichten serviert die junge Reihe "Mord und Nachschlag" bisher eher kriminelle Hausmannskost mit landestypischen Rezepten im Anhang. Im Fall von Harald Keller, früher mal Ultimo-Autor, heute freier Kulturjournalist, sind das Shoarma, Falafel, Chicken Vidaloo oder Glasnudelpfanne mit Hackfleisch. Wo kann Ein schöner Tag für den Tod also nur spielen? In Nordholland, eine Autostunde nördlich der "Auswüchse und Ausläufer von Amsterdam". Da gräbt sich ein griesgrämiger Hoofdinspecteur mit einer frechen Surveillantin durch etwas angeberisch unübersetzte Polizeiterminologie, scheinbar unzusammenhängende Fälle und ein paar Restaurants am Wege. Ein paar Journalisten treten auch noch auf, damit Keller etwas Medienkritik unterheben kann. Leider schreibt er ein wohl komisch gemeintes Umstandsdeutsch, in dem sich ein "Kofferraum auftut", in dem dann doch keine Leiche ist, oder "bitterer Zorn ... tief in wettergegerbte Gesichter geschnitten (war) und ... sich gelegentlich in knappen aber umso deftigeren Worten Luft (machte)". Die Worte aber lässt er weg. Himmel, dann doch lieber gleich Poffertjes mit Käse und Flipje Fla aus der Tüte.

Hamburg Sommer 89: Auf einer Studenten-WG-Party lernt die trinkfeste Physikstudentin Nikola Rührmann Julia kennen. Auf den ersten Blick verliebt sich ich-Erzählerin Nikola in "das engelsgleiche Wesen", und damit fangen ihre Probleme an. Julias linksautonomer Freund Kai kommt bei einem ominösen Autounfall ums Leben. Vom Alkohol mutig geworden, verspricht Nikola ihrer Angebeteten, im Fall Kai zu ermitteln. Dann ist ihr Hauptverdächtiger plötzlich tot. Bohnet Pleitgen hat ein Händchen dafür, Atmosphäre zu schaffen und die vielen Milieus der Hafenstadt zu beschreiben. Freitags isst man Fisch spielt in Jazz-Bars, Studenten-WGs, gutbürgerlichen Wohnvierteln, Villen, schmuddeligen Hafenvierteln und in einer Kneipe mit einem Wirt, der fieses Platt spricht. Spannung kommt dabei nicht auf, als "Hamburg-Roman" funktioniert es ganz gut.

Holland geht auch so: Thomas Hoeps und Jac. Toes schreiben grenzüberschreitend zweisprachig Krimis zusammen. In Das Lügenarchiv bandelt ein deutscher Kunstrestaurator wieder mit seiner niederländischen Profilerin an, von der er sich im ersten Band trennte. Diesmal geht es um einen deutschen Freund, der scheinbar versehentlich im Auto eines holländischen Biodiesel-Industriellen gesprengt wurde. Ein Verband von Umweltkämpfern kommt in Verdacht, ein Asylantenheim kommt politisch deutlich inkorrekt vor, die Apparatur der niederländischen Polizei wird knirschend vorgeführt. Und wenn der Fall gelöst ist, bleiben die Probleme der Welt und des Ermittlerpaares übrig.

Ein alter Fall, über den mal einer einen Krimi schreiben sollte: Wer erschoss Benno Ohnesorg? Armin Fuhrer, FOCUS-Redakteur, hat lieber ein schnelles Sachbuch geschrieben. Erst im Frühjahr 2009 kam nämlich heraus, dass der Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der am 2.6.1967 im Gerangel während einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Notwehr seine Waffe zog, damals ein Spitzel der Stasi war. Fuhrer blättert nun die Akten auf, soweit sie zugänglich sind, und zeichnet das Porträt eines unsicheren Waffennarren, der schon 1955 bei der Stasi in Dienst trat und jahrelang Berichte über Westberliner Polizeiinterna schrieb. Fuhrer sammelt ein paar Indizien, die darauf hindeuten, dass Kurras 1967 Teil einer Stasi-Operation war, Hinweise auf eine Auftragstat findet er aber nicht. Eher sieht man einen verschrobenen Mann, der sich zuhause unterschätzt fühlte und seinen geheimen Kontakten durchweg suspekt war. Vieles ist noch unsicher, wesentliche Akten sind noch immer gesperrt, und der Gründungsmythos der RAF, nämlich dass ein Faschist einen friedlichen Demonstranten in den Hinterkopf schoss, muss vorerst noch nicht umgeschrieben werden.

-aco/thf/jh/vl/w-
Jutta Profijt: Im Kühlfach nebenan dtv, München 2009, 287 S., 9,95
Geoffrey Household: Male Rogue Übersetzt von Michael Bodmer, Kein & Aber, Zürich 2009, 234 S., 16,90
Jamie Freveletti: Lauf aus dem Amerikanischen von Sybille Uplegger. Ullstein, Berlin 2009, 381 S., 8,95
Marcal Aquino: Flieh. Und nimm die Dame mit Aus dem brasilianischen Protugiesisch von Kurt Scharf. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt 2009, 286 S., 19,90
Charlie Huston: Clean Team. aus dem Amerikanischen von Alexander Wagner. Heyne, München 2009, 294 S., 8,95
Colin Harrison: Im Schlund des Drachen. Aus dem Amerikanischen von Anke und Eberhard Kreutzer. Droemer, München 2009, 447 S., 16,95
Sandra Lüpkes: In Hermanns Schatten. Bielefeld, Pendragon 2009, 222 S., 9,90
Jim Nisbet: Dunkler Gefährte. Aus dem Amerikanischen von Frank Nowatzki und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2010, 191 S., 12,80
John Follain: Die letzten Paten. Aufstieg und Fall der Corleones. Aus dem Amerikanischen von Irmengard Gabler. Fischer, Frankfurt 2009, 380 S., 9,95
Manfred Büttner/Christine Lehmann: Von Arsen bis Zielfahndung . Das aktuelle Handbuch für Krimiautorinnen und Neugierige. Argument/Ariadne, Hamburg 2009, 250 S., 16,90
Harald Keller: Ein schöner Tag für den Tod. Münster, Oktober-Verlag 2009. 289 S., 14,-
Bohnet Pleitgen: Freitags isst man Fisch. Argument, Hamburg 2009, 248 S., 11,-
Thomas Hoeps/Jac. Toes: Das Lügenarchiv. grafit, Bochum 2009. 318 S., 9,95
Armin Fuhrer: Wer erschoss Benno Ohnesorg? be.bra Verlag, Berlin 2009, 157 S., 14.95