DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (44. Lieferung)

Asche zu Asche


und hier die vorherige-Ausgabe

Privatdetektiv Tom Fletcher findet die Leiche eines älteren Mannes in einer Kiesgrube. Fletcher ist sich sicher, dass der anonyme Anruf von seinem Vater kam, den er seit über 18 Jahren nicht mehr gesehen hat. Deshalb kann er den Fall nicht der Polizei überlassen und ermittelt selbst. Während seiner Ermittlungen deckt Fletcher ein dunkles Geheimnis auf, das mit dem Fall in Verbindung steht und seine Familie seit den Hexenverfolgungen im 17. Jahrhundert beeinflusst. Hexenverfolgung mit dem Zweiten Weltkrieg und der heutigen Zeit zu verbinden, klingt nach schlechtem Mystery-Hokuspokus. Erstaunlicherweise gelingt es Patrick Lennon daraus einen spannenden Krimi zu stricken, der seine Leser bis zum Schluss im Dunkeln und unter Spannung lässt. Die geschichtsträchtige Umgebung um Cambridge im Osten Englands als Ort des Geschehens ist perfekt gewählt. Ohne wirklich übersinnliche Kräfte in die Handlung einzubauen, schafft es Lennon, die dunkle unheimliche Zeit der Hexenverfolgung ins Heute zu holen und für Gänsehaut zu sorgen.

"Wer dieses Buch zu lesen beginnt, wird nicht aufhören" wird auf dem Backcover für Wo die Zitronen blühen geworben, wofür wir der Gegenbeweis wären. Denn der Mafia-Thriller von Massimo Carlotto und Marco Videtta ist ein Stück peinlichster Trivialliteratur, in der gleich zu Anfang eine Braut im Auto zu ihrem fiesen Geliebten unterwegs ist, dem sie mitteilen will, dass nach der Ehe mit dem Anderen jetzt aber Schluss mit lustig ist. Warum sie trotzdem kurze Zeit später nackt in seiner Wanne badet und alsbald vom Unhold ertränkt wird (von dem "Mann, der sie zur Hure gemacht hatte") erschließt sich so wenig wie der lausige Stil, in dem das alles abgefasst wurde.

Ein Klassiker ist wieder da. Jörg Juretzkas Krimis um den wilden Privatermittler Kristof Kryszinski haben schon Krimipreise und Ultimo-Lob gekriegt, als sie vor 10 Jahren im Taschenbuch herauskamen. Jetzt wird der Tarantino vom Baldeneysee hardcoverreif. Gerade ist mit Der Willy ist weg Band 3 der Reihe erschienen.

Es wird nicht mehr so viel gebetet wie in den Romanen zuvor, auch das Schweigen Gottes im Allgemeinen und im Besonderen spielt in Totsein verjährt nicht keine allzu große Rolle. Dafür steht Ermittler Polonius Fischer mehrfach in der Gegend herum und weiß nicht so genau, was er hier eigentlich tut. Friedrich Ani hat für seinen dritten Roman um Kommissar Fischer, den Ex-Mönch mit dem Gottesknacks, die Manierismen etwas heruntergefahren und erzählt dafür eine ebenso spannende wie bewegende Geschichte über eine Kindesentführung. Für die sitzt zwar schon jemand rechtskräftig verurteilt hinter Gittern, aber der Kommissar und eigentlich die gesamte Mordkommission ahnen, dass da der falsche Mann brummt. Obwohl alles in sehr deutschem Milieu spielt - Eckkneipen sind die bevorzugte Ermittlungsgegend - schickt Ani seine Helden in ganz undeutsche, bizarre Situationen. In einer der wüstesten kniet der über 1,90 große, stets Stetson tragende Kommissar (Kinky Friedman-Komplex?) nachts auf einem Friedhof und drückt das Gesicht einer Frau in die Friedhofserde und brüllt wirres Zeug. Dass er dafür von seinem Chef gerüffelt wird, war zu erwarten. Dass ihm der Rüffel am Arsch vorbei geht, ist typisch für Anis Helden, der dann doch lieber sein Verhältnis zu Gott klären möchte, als dass er ernsthaft an so weltlichen Dingen wie Dienstakten und Verweisen interessiert wäre. Dass Ani seiner seltsamen Hauptfigur einen kindheitlichen Schuldkomplex verpasst (Fischer ist schuld am Tod seiner Mutter) macht die Figur nicht glaubwürdiger und zeugt eher vom erzwungenen Bemühen Anis, seinen Helden originell zu machen. Was etwas albern ist, denn Ani kann schreiben wie kaum ein anderer.

Nur in der Badewanne kommt die Fußpflegerin Kornelia Lorenz zu sich. Krimi-Debütantin Angelika Stucke setzt ihre Hausfrau mit Muttersorgen (mein Sohn schwärmt für jemanden namens Chris, ob das ein Mädchen ist?) im ersten Kapitel von Gute Absicht unter Wasser und lässt sie dann weitgehend da. Derweil metzelt sich eine gestörte Seele durch eine niedersächsische Kleinstadt und kritisiert sozusagen das frühere Kinderheimunwesen mit Blut. Viel lustiger ist da die Nebenhandlung, in der sich ein halbes Altersheim mit Rollator und Zimtschnecken ans Mitermitteln macht. Und auf der letzten Seite steht Chris vor der Tür. Kommt aber wohl erst im nächsten Band rein.

Die Wahrheit über Frankie kommt in dem gleichnamigen Roman von Tina Uebel natürlich nicht ans Licht. Mit drei Erzählstimmen - Christopher, Judith und Emma - wird die Geschichte einer seltsamen Gehirnwäsche vorgetragen. Besagter "Frankie" überredet in Hamburg drei Studenten, sich ihm anzuschließen. Er, Frankie, arbeite für einen Geheimdienst, der leider von einem "Maulwurf" unterwandert wurde, weshalb niemandem mehr zu trauen sei. Er, Frankie, brauche daher Hilfe. Die drei jungen Leute helfen Frankie nicht nur, sie lassen sich auch davon überzeugen, dadurch selbst in Gefahr geraten zu sein und müssen jetzt untertauchen. Beinahe 10 Jahre leben sie im Untergrund, schnorren ihre Eltern telefonisch um Tausende von Euro zum Überleben an, lassen sich von Frankie "zu ihrem eigenen Schutz" wochenlang in Dachböden oder leerstehenden Häusern unterbringen (wo sie freiwillig fast verhungern, wenn Frankie ihnen nichts zu essen bringt) und sind am Ende ganz sicher, dass nur Frankie weiß, wie sie in dieser Welt von Feinden überleben können. In der Form eines Dreifach-Monologs tragen die drei ihre Geschichte vor, was dem Roman von Tina Uebel nicht gut bekommt. Sie kann dadurch zwar einen lockereren Alltagston anbieten, andererseits wissen ihre Erzähler, wenn sie mit dem Erzählen beginnen, wie die Geschichte ausgeht, was die Erzählhaltung oft unglaubwürdig macht. Außerdem versagt Uebel uns die Erkenntnis darüber, was Frankie denn en Detail erzählt hat, um glaubwürdig zu wirken. Die Wahrheit über Frankie soll die Geschichte einer erfolgreichen Gehirnwäsche sein, aber wir erfahren nie, um welche Inhalte es dabei ging. So würde man das alles nicht glauben (und das Buch als hysterische Fantasie abtun), wenn Verlag und Autorin nicht versicherten, alles beruhe auf einer wahren Begebenheit (nämlich der Geschichte des Robert Freegard, der angeblich gegen die IRA ermittelte). Ein Roman, der nur durch ein Beglaubigungsschreiben der Realität glaubhaft werden will - das ist nichts Gescheites. Dann doch lieber den Mut zur Reportage - mit den damit verbundenen aufwändigen Recherchen.

Was Nury Vitacchi seit mittlerweile 6 Bänden mit C.F. Wong, dem Fengshui-Detektiv aus Shanghai, anstellt, hat nur am Rande mit Wohnraumberatung oder Krimi zu tun. Eher mit Culture-Clash-Komödie. Trotzdem kriegt man auch in Der Fenghsui-Detektiv im Auftrag Ihrer Majestät einen klassischen Closed-Room-Mord und ein paar altchinesische Weisheiten. Hauptsächlich aber Witze mit Kulturkonflikten und einen Showdown wie im Actionkino: eine Bombe im Flugzeug wird explodieren, wenn es Höhe verliert. Das könnte man glatt vom Blatt weg verfilmen.

Mit Der Tag der Eule beginnen die Mafia-Literatur und die Karriere von Leonardo Sciascia als Übervater des Genres. Ein Norditaliener, ein "Polentafresser", wird nach Sizilien als Capitano eines Polizeibezirks versetzt, wo er sehr schnell und sehr gründlich begreift, was Mafia ist und wie sie funktioniert und was das mit Sizilien zu tun hat, "Sizilien, dieser einzigen Gegend Italiens, der die faschistische Diktatur tatsächlich Freiheit gebracht hatte, die Freiheit, die auf der Unantastbarkeit des Lebens und des Besitzes beruht. Wie viele andere Freiheiten diese Freiheit gekostet hatte, davon wollten und konnten die Sizilianer nichts wissen." Der Titel ist in der alten, umständlichen Übersetzung von Arianna Giachi, bei Wagenbach neu aufgelegt worden.

Eigentlich wollte Petra Ivanov als Journalistin über Zwangsprostitution und Frauenhandel in der Schweiz schreiben. Weil das aber keiner drucken wollte, erfand sie den Krimi Fremde Hände, in der ein Ermittlerpaar mit Beziehungsproblemen ganz tief in die Szene eintaucht. Da wimmelt es von schrecklichen Schicksalen, bigotten Chefs, zögernden Berührungen am Rande des Dienstes und sonstigen Tricks, die Ivanov aus dem amerikanischen Thrillerwesen adaptierte. Sie schreibe überhaupt nur auf deutsch, gab sie neulich zu, weil in Amerika die Konkurrenz zu groß sei.

Dem neuen Thriller von Robert Littell liegt eine wahre Geschichte zugrunde. Das Stalin Epigramm handelt von dem großen russischen Dichter Ossip Mandelstam, der ein Opfer von Stalins "Säuberungen" wurde. Als er ein böses Gedicht über den Georgier schreibt, landet er in dessen Folterknast, wo es zugeht wie in Guantanamo: "Retten Sie sich. Retten Sie Nadeschda und die anderen vor einem Schicksal, das schlimmer ist als der Tod: vorm langsamen Stranguliertwerden, vor dem vorgetäuschten Ertränken in Wäschereibecken, dem Ersticken in luftdichten Zellen, dem tagelang nackt Dastehen bei Temperaturen unter null, dem Brechen von Knochen, einem pro Tag" wird einer der Hauptfiguren geraten. Und der Chef der Foltertruppe reagiert mit der Spitzfindigkeit der Bush-Juristen auf den Foltervorwurf: "Der Genosse Vernehmungsbeamte reagierte beleidigt. 'Mein armer Mandelstam, wir sind keine Folterknechte. Die tschekistische Tradition besagt, dass nur die Prozedur als Folter gilt, die das Gewissen erschüttert.'" Dazwischen gibt es sehr atmosphärische Beobachtungen aus einem hungernden, verängstigten Land und einen tiefen Einblick in Mandelstams Denken - wie Littell sich das vorstellt. Immerhin hatte er vor vielen Jahren dessen Witwe als Zeugin und Chronistin befragen dürfen. Das Stalin Epigramm enthält daher wenig neue Fakten und erzählt eine Geschichte, die jederzeit erschüttert, weil sie sich wohl genau so zugetragen hat.

Westfalenland außer Rand und Band. Lange war krimimäßig westlich der Weser ziemlich der Hund begraben. Aber seit kurzem erscheinen überall Kurzkrimi-Bände aus dem Land, wo Hermann schlug und Varus fiel. Gerade etwa Mord-Westfalen 2, mit dem der Bielefelder Pendragon-Verlag sein Einzugsgebiet aus dem Ostwestfälischen bis nach Münster oder Bochum erweitert. 32 Autoren, vom preisgekrönten alten Herrn (-ky, Göhre, von der Grün) bis zum in Leichensachen bisher unauffälligen Nachwuchs (Niermeyer, Grosche) haben weitgehend unterhaltsame kriminelle Einfälle und übertreiben es zum Glück weder mit dem Lokalkolorit noch mit der Länge. Verlagschef Günther Butkus selbst kommt für seinem Beitrag etwa mit 1,5 Seiten aus.

Ein bisschen steht ihm seine Eitelkeit im Weg, aber ansonsten hat der Anwalt Ferdinand von Schirach mit Verbrechen eine beachtliche Storysammlung vorgelegt. Darin werden Geschichten erzählt, die sich so zugetragen haben sollen. Manche davon sind komisch, manche todtraurig, manche sehr rätselhaft - etwa jene, in der zwei pöbelnde Nazis von einem Unbekannten mit wenigen Handgriffen filetiert werden. Der Tonfall ist sachlich, aber nicht kalt. Und die wenigsten Geschichten haben etwas mit "Gerechtigkeit" zu tun. Schirach ist viel zu abgebrüht, um überhaupt zu erwähnen, dass Justiz und Gerechtigkeit nichts miteinander zu tun haben. Einmal erwähnt er in einem Nebensatz, dass ein guter Anwalt alles für seinen Mandanten versuchen sollte. Und an anderer Stelle beschreibt er, wie wenig das manchmal ist. Und dass manchmal daran Menschen sterben. Obwohl die Welt von Verbrechen eindeutig und gut erkennbar unsere Welt ist, möchte man darin nicht leben. Aber einen Anwalt wie Schirach hätte man gerne an seiner Seite.

Schlagt die Jugendämter, wo ihr sie trefft. Mit angenehmer Obrigkeitswiderwilligkeit lässt Christine Lehmann in ihrem achten "Nerz"-Krimi Mit Teufelsg'walt die ermittelnde Teilzeit-Journalistin Lisa Nerz in allerlei Kinderfälle stolpern und in linken Kreisen nicht ganz gängige Haltungen einnehmen: natürlich gegen Mädchen-Beschneidung in Afrika, aber auch gegen aufgeregte Gutmenschen, die jungen Afrikanerinnen zum Schutz die Heimreise aus Deutschland verbieten wollen. Der Fall selbst verschwindet fast hinter hineinmontierten Zahlen und Fakten aus dem Betreuungswesen. Nur mit ein paar Taschenspielertricks (verlegte Spuren etc.) kriegt Christine Lehmann ihn lang genug, um auch noch Querverweise auf frühere Nerz-Romane darin unterzubringen. Jetzt fehlt eigentlich nur noch, dass Nerz demnächst das Handbuch liest, das ihre Autorin übers Krimischreiben verfasste.

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Patrick Lennon: Stahlhexen Aus dem Englischen von Barbara Ostrop. dtv, München 2009, 383 S., 8,95
Massimo Carlotto / Marco Videtta: Wo die Zitronen blühen Aus dem Italienischen von Judith Elze, Tropen/Klett-Cotta, Stuttgart 2009, 215 S., 18,90
Jörg Juretzka: Der Willy ist weg Rotbuch, Hamburg 2009, 316 S., 16,90
Friedrich Ani: Totsein verjährt nicht Zsolnay, Wien 2009, 285 S., 19,90
Angelika Stucke: Gute Absicht Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2009, 316 S., 8,95
Tina Uebel: Die Wahrheit über Frankie C.H. Beck, München 2009, 310 S., 19,90
Nury Vitacchi: Der Fenghsui-Detektiv im Auftrag Ihrer Majestät Aus dem Englischen von Ursula Ballin. Unionsverlag, Zürich 2009, 254 S., 19,90
Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule Aus dem Italienischen von Arianna Giachi. Berlin 2009, 141 S., 9,90
Petra Ivanov: Fremde Hände. Ein Fall für Flint und Cavalli Unionsverlag, Zürich, 2009, 444 S., 12,90
Robert Littell: Das Stalin Epigramm Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence. Arche, Zürich - Hamburg 2009, 397 S., 22,-
Günther Butkus (Hg.): Mord-Westfalen 2. Kriminelle Geschichten aus Westfalen Bielefeld, Pendragon 2009, 411 S., 12,90
Ferdinand von Schirach: Verbrechen Piper, München 2009, 208 S., 16,95
Christine Lehmann: Mit Teufelsg'walt ariadne Krimi, Argument, Hamburg 2009, 285 S., 11,00