DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (35. Lieferung)

Stille Wasser


und hier die vorherige-Ausgabe

Kommissar Maigret wird demnächst 80. So ungefähr. Es gibt zwar keine offizielle Biografie des Romanhelden, aber der Diogenes-Verlag, der seit den 70ern Maigret-Romane auf Deutsch verlegt, widmet dem kontinentaleuropäischen Ur-Kriminalen eine Gesamtausgabe aller 100 Maigret-Romane in 75 Bänden und in chronologischer Reihenfolge. Deshalb beginnt die Reihe jetzt mit Pietr der Lette, den Georges Simenon 1929 schrieb, als der gelernte Polizeireporter und Gesellschafts-Autor beschloss, ernsthafte Literatur zu machen. Seit damals ist Maigret "der Kommissar", wenn man in Frankreich und Deutschland an Krimis denkt. Mit Maigret erhob sich die Kolportage zur Literatur, sagen die Genre-Apologeten. Mit Maigret hielt die Menschenkenntnis Einzug in die Ermittlungsarbeit, das Verstehen wurde wichtiger als das Entschlüsseln. Maigret verbindet europäische Atmosphäre und Staatstreue mit angelsächsischer Soziologie und Individualismus, sagen schließlich Krimi-Forscher. Tatsächlich steht Maigret in Paris am Anfang genau zwischen den L.A.-Privatdetektiven Dashiell Hammetts (ab 1930) und den Londoner Super-Inspektoren Edgar Wallaces (ab 1920). Im ersten Fall hat Maigret eine Leiche, die ein international gesuchter High-Crime-Verbrecher sein könnte, und einen Verdächtigen, der dem Verblichen wie ein Zwilling ähnelt, aber am unteren Ende der Gesellschaft eine Liebschaft hat. Und zum Schluss liegt Maigret verletzt zu Haus im Bett und läßt sich von seiner Frau als "Maigret" ansprechen. Sehr interessant. Hoffentlich gibt es in den Folgebänden Infos zu Leben und Werk, Simenons und Maigrets.

Nette Idee: Eines Tages wird das Öl sauer. Mikroben sorgen dafür, dass der Schmierstoff der industrialisierten Welt unbrauchbar wird. R. Scott Reiss hat aus diesem Einfall allerdings nicht mehr destillieren können als die üblichen Folgen: Aufgebrachte Bürger stürmen einen Supermarkt, ein böser Nachbar mutiert zum Killer und will die Kinder des Forschers töten, der eigentlich die Rettung erfinden soll. Black Monday spielt mit Zivilisations- und Untergangsängsten. Aber das haben wir alles schon viel besser gelesen.

Die US-Präsidentin hat es endlich geschafft: Sie hat einen Friedensvertrag zwischen Israel und den Palästinensern durchgeboxt, und der soll in 10 Tagen unterschrieben werden. Dann wird ein orthodoxer Rabbi gekidnappt, und der israelische und der palästinensische Geheimdienst machen sich daran, die Entführer aufzuspüren, bevor das Ultimatum abläuft und der Rabbi ermordet wird und der ganze schöne Friedensvertrag den Bach runter geht. Robert Littell hat in Die Söhne Abrahams einen eher schmalen und bescheidenen Thriller geschrieben, dessen Kern die Verhörszene des Rabbi darstellt. Der islamische Entführer und der fanatische Jude stellen nämlich sehr bald fest, wie sehr sie einer Meinung sind: Über "westliche Werte", nackte Frauen, laizistische Regierungen, die das jeweils "heilige Land" für faule Kompromisse aufzugeben bereit sind. Obwohl diese Passagen naturgemäß komisch wirken, hat Littell sie bitterernst entworfen, und das traurige lustige Ende ist ebenso einleuchtend wie deprimierend. "Bring mich um!" sagt der Rabbi zu seinem Entführer, "bitte bring mich um! Dann werden meine Leute welchen von deinen umbringen, dann werden wieder deine welche... und es wird nie diesen verhängnisvollen Friedensvertrag geben.".

Karl Rünz ist ein Arsch, wie viel zu wenige der neuen Regional-Krimi-Ermittler. Aber er hat einen Autor, der sich ausser mit Plot-Erfordernissen auch noch mit richtiger Wissenschaft auskennt. Christian Gude schickt den Polizisten Rünz rüpelnd, waffennärrisch und etwas gespreizt anti-intellektuell in Binärcode in einen Mordfall, der mit einer echten Kometen-Erforschungs-Mission zu tun hat. Man lernt einiges über die Europäische Space Agency und über Darmstadt, man verhaspelt sich in langen Ironien auf den allgemeinen Management-Slang, und am Ende will man mehr informierenden Anhang als im Buch steht.

Andrea Camilleri inszeniert seine Montalbano-Krimis zunehmend als Bauerntheater. Die dunkle Wahrheit des Mondes handelt zwar auch irgendwie von einem toten Pharmavertreter, der mit heraushängendem Schwanz und in einer sehr privaten Situation erschossen wurde. Aber eigentlich geht es ums Älterwerden, Berlusconi, Männerphantasien, Frauenphantasien, Berlusconi - Italien halt im Jahr 2004, als das Buch erschien. Spannend ist weniger die Entwicklung der Hauptfigur als die des Autors, der inzwischen seinen Commissario bei Bedarf direkt anquatsch: Hey, Montalbano, was für ein Trottel du doch bist! - sehr witzig.

Jean-Christophe Rufin war mal stellvertretender Vorsitzender von "Ärzte ohne Grenzen" und ist insofern bestimmt ein guter Mensch. Ein guter Autor ist er, ausweislich des Bioterrorismus-Thrillers 100 Stunden, gewiss nicht. Der Fischer Verlag war so aufgeregt, das schnell herauszubringen, dass er gleich zwei Übersetzerinnen beschäftige. Die konnten aber diesen langweiligen Ziegelstein voller Klischees und öder Phrasen auch nicht retten. Die Idee - Ökofans sorgen für den Weltuntergang - ist ja nicht schlecht, aber eine gute Idee hat noch nie ein gutes Buch ausgemacht; schon gar nicht bei mehr als 100 Seiten.

Kristof Kryszinski wird wohl keine 50 mehr. Jörg Jureztkas schmuddeliger Privat-Detektiv stürzt sich auch im neuen Fall Bis zum Hals so rasant in die Untiefen des Ruhrgebiets, von Russen-Mafia bis Transen-Bar, von Tierpension bis Knappschafts-Pathologie, dass man da nur mit allerlei Unglaublichkeiten überlebend raus kommt. Seinen ersten Romanauftritt vor genau 10 Jahren quittierten wir mit "sollte jeder im Handschuhfach haben, der seine Autos auf dem Schrottplatz kauft" und brachten es damit gleich auf den Klappentext des nächsten. Der "Stern" toppte uns dann mit "der Raymond Chandler des Ruhrgebiets". Kryszinski trägt keine Waffe und ermittelt stets loser-romantisch so, dass er von jedem gefickt wird, und den Fall nur sehr unzufriedenstellend löst. Das ist immer so und diesmal ist es besonders romantisch. Wenn wir aber Juretzka wären, hätten wir jetzt Angst vor Hells Angels und Swinger-Clubs.

Renate Niermann ist neu in der Branche. Und Oldenburg ist neu auf der Leichen-Landkarte. In Der Graumacher sammelt ein Phantom tote Mädchen, aber leider verrät schon der Klappentext, dass das eigentliche Geheimnis in die Nazizeit gehört. Und eigentlich versucht die Debütantin ein Cross-Over von "Haunted House" und "Teenie tappst in Eltern-Schande". Eine Jung-Journalistin stolpert über ein altes Rätsel und findet eine komplizierte Parabel über Rettung und Verdrängung in den 40ern. Die Erzählung weiß nicht recht, ob sie Horror oder Krimi werden will, aber sie ruckelt recht eindringlich am aufgeräumten Image der Stadt.

Mehr als zwei Jahrzehnte hat uns Magdalen Nabb ihren Wachtmeister Guarnaccia ans Herz gelegt. Wir haben erlebt, wie er einsam in Florenz seinen Dienst tat und darauf wartet, dass die Familie endlich zu ihm zieht. Dann haben wir seine Frau Teresa kennen gelernt und begriffen, dass Guarnaccia überhaupt nur deshalb als Polizist funktioniert, weil Teresa an ihn glaubt. Wir lernten seine schwerfällige Art zu denken schätzen und sein Mitleid mit aller Kreatur. Manche Romane, wie (Tod einer Queen, waren eigentlich nichts anderes als Fortbildungsveranstaltungen für einen freundlichen, etwas zum Spießigen neigenden Maresciallo, der etwa am Ende einer Ermittlung begreift, in was für einem materiellen und seelischen Elend Transvestiten leben. Jetzt schickt Frau Nabb in Vita Nuova ihren Wachtmeister in eine scheinbar einfache Mordermittlung. Und mittendrin und ganz plötzlich erkennt Guarnaccia, dass er der Mafia auf die Füße getreten ist, wahrscheinlich der italienischen und, schlimmer, der Russen-Mafia. Und Guarnaccia sieht keinen Ausweg als seinen Rücktritt einzureichen. Anders kann er seine Familie nicht schützen. Auch mit seinem Vorgesetzten kann er nicht reden (ohne den dann als Mitwisser ebenfalls in Gefahr zu bringen). Guarnaccia geht wie betäubt durch die Stadt, wie paralysiert, ein kleiner Mann, der aus Versehen ein paar ganz Großen auf die Zehen getreten ist und nicht mehr weiter weiß. Diesen Schock-Zustand beschreibt die Nabb auf nicht mal 20 Seiten, und wie sie das macht, im Tonfall unaufgeregt, dabei ganz bei ihrer Figur, wie sie das Tempo rausnimmt, wie sie erzählerisch das Luftloch konstruiert, in das sie ihre Hauptfigur fallen lässt - das ist das beste, was sie über diese Figur je geschrieben hat. Und diese 20 Seiten sollte man all jenen um die Ohren hauen, die Donna Leon für eine überragende Autorin halten. Signora Leon darf Madame Nabb gerade mal die Schuhe zubinden.

-aco/thf/vl/w-

Georges Simenon: Pietr der Lette Aus dem Französischen von Wolfram Schäfer. Diogenes, Zürich 2008, 192 S., 9,00
R. Scott Reiss: Black Monday Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann. Ullstein, Berlin 2008, 472 S., 9,20
Robert Littell: Die Söhne Abrahams Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Scherz, Frankfurt 2008, 349 S., 17,90
Christian Gude: Binärcode Gmeiner, Meßkirch 2008, 279 S., 9,90
Andrea Camilleri: Die dunkle Wahrheit des Mondes Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. edition Lübbe, Bergisch-Glad. 2007, 269 S., 19,95
Jean-Christophe Rufin: 100 Stunden Aus dem Französischen von Brigitte Große und Claudia Steinitz, Fischer, Frankfurt 2008, 558 S., 19,90
Jörg Jureztka: Bis zum Hals Ullstein, Berlin 2007, 302 S., 7,95
Renate Niermann: Der Graumacher Pendragon, Bielefeld 2008, 256 S., 9,90
Magdalen Nabb: Vita Nuova Aus dem Englischen von Ulla Kösters, Diogenes, Zürich 2008, 322 S., 19,90