DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (31. Lieferung)

Gottessuche auf dem Polizei-Revier


und hier die vorherige-Ausgabe



Sherlock Holmes ist nicht tot zu kriegen. Jetzt gibt es sogar eine neue Pseudo-Biographie des Vaters der privaten Ermittlung. Nick Rennison schrieb Sherlock Holmes - eine unautorisierte Biographie ausdrücklich nicht für beinharte Fans, die eh alles kennen, was der mediokre Literaturagent Arthur Conan Doyle aus den Aufzeichnungen Doktor Watsons als eigene Fiktion ausgab. Die erfundene Lebensgeschichte dient Rennison eher dazu, ein breites Panorama der englischen spätviktorianischen Welt aufzublättern. Mit Holmes wird die scheinbar stabile Epoche kurz vor Erfindung des Autos brüchig, "wissenschaftliche Methoden" ersetzen Gewissheiten, andererseits ist Opium noch fraglos Bestandteil von Kinderarzneien. Rennison macht weniger professorale Bildungs-Witze als der große William Baring-Gould, Holmes' erster Biograph. Bei Rennison trifft Holmes nicht auf Karl Marx oder Charles Darwin, aber sehr wohl auf Siegmund Freud, und natürlich kann auch dieser Holmes Jack the Ripper überführen.
Einmal im Jahr schreibt Greg Bear einen wissenschaftlichen Thriller, und weil er ein gelernter Science Fiction-Autor ist, spielen seine Geschichten immer ein bisschen am Morgen des folgenden Tages. In Quantico etwa ist Saudi-Arabien "gefallen", die arabischen Nachbarn zerlegen den Musterstaat der Wahabiten von allen Seiten, jeder will sich die Heiligen Stätten sichern. Die USA, von diversen Terror-Anschlägen gebeutelt, haben längst den Überblick verloren, wer eigentlich ihre Verbündeten sind und woran man sie erkennt. Vor diesem ebenso realistischen wie wilden Setting spielt Quantico, benannt nach dem FBI-Hauptquartier. Denn das FBI gibt es zwar noch, es steht aber vor der Auflösung, obwohl es von allen US-Polizeidiensten noch am seriösesten zu arbeiten scheint. Jemand spielt mit genetisch manipulierten Hefe-Bakterien herum, und während wir einerseits den traurigen Chef-Terroristen auf seinem Weg ins totale Abseits begleiten, kloppen sich diverse Geheimdienste um das Recht, ermitteln zu dürfen. Das ist ebenso düster wie witzig. Auch wenn die Plot-Auflösung eher dürftig ist: über Afghanistan und Saudi-Arabien führt uns Bears gut gebaute Geschichte durch eine klug reflektierte Gegenwart, spekuliert lässlich mit der Zukunft, verliert dabei nicht an Spannung und erspart uns weitgehend Liebesszenen und Klischees.
Kurt Wallander ist Hedda Gablers Enkel. So knapp stellt der erste Text im Aufsatzband Fjorde, Elche, Mörder den "Skandinavien-Krimi" als neues deutsches Phänomen und dritte Welle nordischer Literatur-Moden vor. Erst kam die Strenge in Hochkultur (Ibsen, Kierkegaard), dann machten Sjöwall/Wahlöö den Schundroman gesellschaftkritik-fähig, und seit Henning Mankell ist "Skandinavien" ein Marketing-Logo für Leichensachen. Der rührige Wuppertaler Nord Park-Verlag versucht jetzt eine erste Gesamtdarstellung des Phänomens. In einzelnen Beiträgen werden die kriminellen Nationalliteraturen (von Dänemark bis Island) und die bekanntesten Autoren (von Mankell bis Nesser, von Dahl bis Marklund) seminarreif durchgenommen. Zwei Aufsätze fragen darüber hinaus, wieso gerade Skandinavien ausgerechnet in Deutschland zur Krimi-Marke wurde. Weil die nordische "kritische Haltung" hier auf allgemeine Staats-Skepsis trifft? Weil dort mehr Welt in der Literatur steckt als bei uns? Oder mehr Polizistinnen tätig sind? Oder die Sätze kürzer? Keiner weiß es genau, aber wer sich für die Fragen interessiert, wird mit dem von Jost Hindersmann herausgegebenen Band gut versorgt.
Eine Leiche im Berliner Landwehrkanal, damals, vor dem letzten Krieg - das wird doch wohl nicht Rosa Luxemburg sein? Nein, so politisch ist Susanne Gogas Roman Tod in Blau dann doch nicht. Ihr zweiter Krimi um den sozialdemokratischen Kommissar Leo Wechsler (nach Leo Berlin) streift eher touristisch durch die Hauptstadt im Jahr 1922. Die Leiche hat etwas mit einer Asgard-Gesellschaft zu tun, eine zweite Leiche hat sich als Maler mit "hässlichen" Porträts Feinde gemacht, eine Tänzerin macht einen Striptease mit Geldscheinen, um gegen die Inflation zu protestieren, und der Kommissar findet neben dem Ermitteln noch Zeit, sich von seiner Lieblingsbuchhändlerin Joyces "Ulysses" erklären zu lassen. So kommt viel Zeitkolorit zusammen.
Ein irakischer Geheimdienstoffizier im Exil wurde ermordet. Auf der Suche nach der einzigen Augenzeugin findet ein ziemlich abgewrackter Journalist das eigene Ego wieder und dealt irgendwann souverän mit allen möglichen Geheimdiensten, denn der Tote war auch Mitglied eines Nationalkomitees für ein "freies Kurdistan". Eine Art von Zorn heißt dieser Thriller-Klassiker von Eric Ambler und erschien erstmals 1964. Städte wie Kirkuk, die heute täglich durch die Nachrichten gehen, kennt Ambler ebenso nebenbei wie den Kampf ums Öl. Denn dass der Nahe Osten nicht zur Ruhe kommt liegt weniger an Israel (das hier gar nicht erwähnt wird) als an den Ölkonzernen. Obwohl habituell etwas altbacken (hier gibt es noch eine Schweizer Sittenpolizei), ist der Roman so aktuell wie eh und je. Und in seinem ironisch-bissigen Tonfall ist der späte Ambler eh nicht zu übertreffen. Diogenes hat die Neuübersetzung noch einmal aufgelegt.
Nicht viele deutsche Krimiautoren haben internationales Format, weder in der Handlung, noch in der Schreibe. Detlef Bernd Blettenberg ist als D.B. Blettenberg seit 25 Jahren eine der wenigen Ausnahmen. Sein jüngster Roman, Land der guten Hoffnung, spielt in Südafrika, am Kap. Ein Freelancer mit Entwicklungshilfe-Vergangenheit soll im Auftrag eines reichen Hanseaten einen Mann finden, der vor Jahren dessen Tochter entführte. Das Lösegeld wurde gezahlt, der Täter verschwand, die Tochter kam frei. Jetzt sucht sie, neben dem Helden, auch selbst ihren Entführer, weil sie ein Kind von ihm hat. Und weil sie ihn, den sie nur maskiert kennen lernte, immer noch liebt. Mit solchen Überraschungen verwirrt Blettenberg immer wieder die Sympathien des Lesers. Waren die Entführer Freiheitskämpfer für den ANC? Warum haben sie mit Bothas Geheimpolizei zusammengearbeitet? Wer bringt afrikanische Jazz-Musiker um, die damals im Untergrund arbeiteten, heute Touristen unterhalten und unbedacht den Ermittlern Tipps gaben? Das Porträt der Region ist gelungen, sagen Leute, die sich da auskennen. Die Charaktere sind sinnvoll nicht eindeutig gut oder böse. Etwas zu häufig aber müssen lange redende Romanfiguren die komplizierte Lage am Kap erklären.
Eigentlich wollte Friedrich Ani keine Krimis mehr schreiben, und nach der Lektüre seines Wortbruches - Idylle der Hyänen - ist man nicht sicher, ob er nicht besser weiter geschwiegen hätte. Denn natürlich kann Ani schreiben wie der Teufel, wählt Formulierungen, Bilder und verfasst Dialoge, die sonst keinem seiner Kollegen einfallen. Aber schon die Namensgebung seines neuen Ermittlers (Polonius Fischer) und der Romantitel machen klar, dass hier nicht gelacht werden soll, hier werden große und schwere Moral-Pakete zugestellt. Der Chef und seine 12 Ermittler ("12 Apostel" nennt man sie scherzhaft im Polizei-Präsidium) sind bei Ani nämlich vorwiegend für Sinn- und Gottessuche zuständig. Es geht um eine Frauenleiche in der Tiefgarage, um dröge, direkte Ermittlungsarbeit und um Nachbarn, die den ganzen Tag aus dem Fenster gucken und doch nichts sehen. Aber vor allem geht es darum: Was und wo ist die Wahrheit? Darf im Verhörzimmer ein Kruzifix hängen? War Jesus ein Selbstmörder? Und was hält man von einem Kommissar, der die Angehörigen eines Mordopfers aufsucht und zunächst ein Gebet spricht? Wer so viel bayerisch-verdröselte Gottessuche auf dem Polizeirevier mag, der wird mit einer guten Geschichte, einer etwas verquasten Psychologie und sehr viel Besserwisserei bedient. "Gott ist eine Drecksau", sagt einer der Verdächtigen, "wo er auch auftaucht: Leichenberge". Das ist schön gesagt. Leider benutzt Ani solche Sätze als Beweise: Wer so denkt, wird selbst zum Mörder, denn es steht uns nicht zu, über Gott zu richten. Derart platt stand sowas zuletzt bei Chesterton, und auch der hat keine guten, aber wenigstens witzige Krimis geschrieben.
Aus irgendeinem Grund gelten die Krimis aus dem Norden grundsätzlich als einfühlsam und gesellschaftskritisch. Wie sehr diese Annahme inzwischen Legende ist, kann man dem Krimi Das Axtschiff entnehmen, der mit der Zeile für sich wirbt , dass er gerade verfilmt werde. Nur zu. Die ersten Minuten gehen dann wohl dafür drauf, wie Frau Kommissar sich die Beine rasiert und im Spiegel überprüft, wo die böse Orangenhaut sitzt. Derlei nämlich schreibt Jens Henrik Jensen, und man muss es nicht lesen.
Mit Das falsche Spiel des Fischers soll Roberto Mistretta als Ersatz-Camilleri etabliert werden. Seine Romane spielen in Sizilien, sein Maresciallo Bonanno ist ein übel gelaunter Ermittler, und alles zusammen ist eher die Proll-Mannschaft Siziliens zugange: Hier wird den Damen in den Ausschnitt geguckt, es wird geflucht, gespuckt, Kinder werden geohrfeigt - man möchte gar nicht dabei sein und lieber ein gutes Buch lesen. Gerade ist der 2. Band Die dunkle Botschaft des Verführers erschienen. Es wird nicht besser. (edition Lübbe, Bergisch-Gladbach 06/7)
Der echte Camilleri legt mit Die Passion des stillen Rächers einen weiteren Roman um seinen Commisario Montalbano vor. Der hat plötzlich seine Verlobte am Hals (und leidet unter ihrer Kochkunst) und einen seltsamen Entführungsfall zu lösen, bei dem der Leser leider schnellerdas Rätsel löst als der schwerfällige Ermittler. Trotzdem ist die Lösung schön, denn die durch und durch private Geschichte schlägt plötzlich in eine recht politische Angelegenheit um, und man kann sehen, wie man Berlusconi als Mafioten denunziert, ohne seinen Namen auch nur zu nennen. Sehr schön.
Im Nevada der 50er lässt Richard Rayner seine Geschichte spielen: ein eitler, etwas dummer Architekt baut der Mafia gerade ihr Las Vegas zusammen (wo mancher damals noch auf dem Pferd von Casino zu Casino zog) und soll bald Senator werden, als eines Tages eine Frau in sein Leben tritt, mit der er sofort im Schlafzimmer verschwindet. Solche Geschichten hat man tausendfach gelesen, aber der Engländer Rayner (L.A. without a map) ist erstens ein großartiger Stilist, und zweitens nutzt Das dunkle Herz der Wüste eine Menge authentisches Material zu durchaus Grotesken Szenen. Der Mob-Gewerkschaftler Jimmy Hoffa taucht auf, die Jazz-Legende Lionell Hampton spielt zum Dinner auf, und einmal im Monat trifft sich die Schickeria am Fensterplatz des Casinos, um die Atombomben-Versuche im Abendlicht der Wüste zu beobachten. Rayner entwirft das Sittenbild einer Gesellschaft, die in den 50ern meinte, unausweichlich in einen Atomkrieg ziehen zu müssen und die, nach den Erfahrungen des letzten Weltkrieges und mit Joe McCarthy im Rücken, sicher ist, die ganze Welt besiegen zu können. Das dunkle Herz der Wüste (O-Titel: The Devil Winds) liest sich dabei dermaßen süffig, dass man kaum bemerkt, wie souverän Rayner eigentlich eine ganz konventionelle Geschichte erzählt.
In Shanghai geht es scheinbar albern zu. Industrielle Hypermoderne, uralte Tradition und bürokratischster Parteiapparat stoßen komisch zusammen. In Shanghai Dinner - Der Fengshui-Detektiv rettet die Welt, dem vierten Band seiner Serie, lässt Nury Vittachi etwa militante Veganer eine Gala überfallen, bei der das Essen lebend serviert wird. Oder einen Abrißunternehmer das Büro des esoterischen Wohnraumberaters und Titelhelden einfach in Klump schlagen. Das klingt wie direkt aus "Per Anhalter durch die Galaxis" importiert. Später benimmt sich der Ministerpräsident der Volksrepublik am Telefon wie Peter Sellers in "Dr. Seltsam". Dazwischen klärt der Fengshui-Detektiv, der gerne noch pochende Froschherzen isst, auch ein paar Verbrechen auf. Der Hauptspaß aber ist das Durcheinander der Kulturen.
Ist's der Übersetzer oder kann Thomas Harris wirklich nicht schreiben? Der Stil von Hannibal Rising ist unerträglich, irgendwo zwischen plattem Pathos, Halbbildung und düsterem Raunen. Macht nix - nach Erscheinen enterte das Ding sofort die Bestsellerliste.
Edgar Wallace ist in Deutschland für Filme berühmt, die wenig mit seinen Büchern gemein haben. Wer sich am Original sachkundig machen möchte, Englisch aber nur mit dem Lexikon lesen kann, sollte zu Crime Classics greifen. Das ist ein schmales Bändchen mit vier Wallace-Stories im Paralleldruck auf englisch und deutsch. Fast zeilengenau kann man so Original und Übersetzung vergleichen, und sich etwa wundern, dass manchmal englische Sätze durchaus länger, ja sogar umständlicher, als deutsche sein können.
aco/vl/thf/wing
Nick Rennison: Sherlock Holmes - eine unautorisierte Biographie. Aus dem Englischen von Frank Rainer Scheck und Erik Hauser. Patmos / Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, 280 S., 19,90
Greg Bear: Quantico Deutsch von Usch Kiausch, Heyne, München 2006, 543 S., 8,95
Jost Hindersmann (Hg): Fjorde, Elche, Mörder Der skandinavische Kriminalroman. NordPark, Wuppertal 2006, 316 S., 22,00
Susanne Goga: Tod in Blau dtv, München 2007, 299 S., 14,50
Eric Ambler: Eine Art von Zorn Aus dem Englischen von Malte Krutzsch, Diogenes, Zürich, 1997/07, 358 S., 9,90
D.B. Blettenberg: Land der guten Hoffnung Pendragon, Bielefeld 2006, 320 S., 19,90
Friedrich Ani: Idylle der Hyänen Zsolnay, München / Wien 2006, 349 S., 19,90
Andrea Camilleri: Die Passion des stillen Rächers Aus dem Italienischen von Christiane v. Bechtolsheim, edition Lübbe, Begisch Gladbach 2006, 253 S., 18,-
Richard Rayner: Das dunkle Herz der Wüste Deutsch von Lutz- W. Wolf, dtv, München 2006, 373 S., 14,50
Nury Vittachi: Shanghai Dinner - Der Fengshui-Detektiv rettet die Welt Aus dem Englischen von Ursula Ballin. Union, Zürich 2007, 317 S., 19,90
Edgar Wallace: Crime Classics Aus dem Englischen von Anne Rademacher. dtv, München 2006, 175 S., 8,50