DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (28. Lieferung)

Mittel & Motive


und hier die vorherige-Ausgabe



Es ist erstaunlich, wie wenig die Ereignisse um 9/11 die Krimi- und Thrillerproduktion beeinflusst haben. Im Genre sucht man derzeit lieber nach alten Manuskripten und verstaubten Mythen oder deckt uralte Verschwörungslinien auf. Die Wirklichkeit hat sich vorübergehend aus einem Genre verabschiedet, das einmal Wert darauf gelegt hatte, auch Spiegel der Gesellschaft zu sein.
Man könnte auch sagen: es sind selten so viele strunzdumme und schlecht geschriebene Krimis in Deutschland erschienen wie in den letzten zwei Jahren. Soweit die in Ketten organisierten Buchhandlungen noch Krimi-Ecken pflegen, steht dort meist das mediokre Zeug der Großverlage als Stapelware. Kleinverlage haben es schwer, ihre Titel dort überhaupt noch zu platzieren.
Der Däne Leif Davidsen kümmert sich noch um die Welt und schreibt in Der Feind im Spiegel über die alten Gesetze der neuen Weltordnung: Während in Dänemark der Geheimdienst nach neuen Feinden sucht (die Russen werden in dem Roman nicht einmal erwähnt), rekrutieren die Amis einen Ex-Terroristen aus den Balkankriegen (der schon in einem früheren Davidsen-Roman auftauchte). Der soll nach Dänemark eingeschleust werden, um dort Kontakt aufzunehmen zu alten Freunden, die jemanden kennen, der eine Telefonnummer kennt, die zu einem Top-Terroristen führt, der angeblich auf Saddam Husseins Gehaltsliste steht. Alte Feinde stehen hier Seit' an Seit', um Osama Bin Laden zu jagen, die Entschuldigungen für die laxe Moral sind die gleichen wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Es ist Davidsen hoch anzurechen, wie er lakonisch entlarvt, dass das neue Spiel den alten Regeln folgt. Wie jeder gute Thriller-Autor braucht mehr als 300 Seiten, um seine Geschichte in Gang zu setzen. Die eigentliche Aktion geht schnell vorüber (es wird gefoltert, gemordet, und am Ende stürzt jemand in eine tiefe Schlucht). Wichtiger sind die Motive der Figuren, ihr Umfeld, ihre Vorlieben. Der Feind im Spiegel ist ein kleiner Sittenroman über das Leben in Geheimdienstkreisen, nicht sonderlich überraschend, aber sehr gut geschrieben und sehr nah an der Wirklichkeit gebaut.
Lenina Rabe ist Anfang 20, mag Synfoniekonzerte, betreibt Aikido, trinkt Yogi-Tee und hätt' so gerne diesen Philipp im Bett. Nur hat der noch was mit Leninas Schulfreundin Nadine. Trotzdem wird Haie zu Fischstäbchen kein Schmalz, Robert Brack will eine Art linker Raymond Chandler werden, den "Marlowe"-Preis der deutschen Chandler-Gesellschaft hat er schon zweimal bekommen.
Lenina führt die Detektei ihres Vaters weiter. Der war Marxist und starb bei Ermittlungen gegen Rechtsextreme. Folglich ermittelt Lenina lieber gegen Bauunternehmer als gegen Schwarzarbeiter. Auch ist sie dem Staatsapparat, der im ersten Band Dienstübergriffe gegen sie beging, wenig zugetan. Im zweiten Fall kommt sie ganz gut in der Hamburger linksalternativen Szene rum, weil der Mord an einer Obdachlosen in die Stadtsanierungsdiskussion platzt. Der Plot ist gut ausgedacht und schnell einmal im Bogen um das zentrale Rätsel herum erzählt. Leider nur fallen die Diskussionen wesentlicher Fragen an der Grenze von Staat und Leben zu papieren aus: Darf man den Bullen helfen? Ist Rohypnol chemisches Tantra? Wieviel Rechtsbruch decke ich bei wem? Nicht unspannend, aber bei Brack reden sie, als hätten sie es im Fernsehen gelernt.
Lousie Boni ist Anfang 40, Alkoholikerin, Buddhistin und Hauptkomissarin bei der Kripo Freiburg. Außerdem hat sie Im Sommer der Mörder noch jede Menge Leichen im Keller, die Autor Oliver Bottini etwas dreist unerklärt im Fall herumliegen lässt. Ohne den ersten Boni-Band, der 2005 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde, fehlt einem viel. Andererseits kriegt man auch viel. Oft kurze Sätze. Zu kurze. Zu viele. Aber auch schön beobachtete Strecken über Land und Leute und über unausgesprochene Botschaften in jedem Gespräch. Und den Fall natürlich, einen furchtbar komplizierten, der bis in den Jugoslawien-Krieg zurück reicht und heute bis nach Pakistan und zu amerikanischen Geheimdiensten. Der Fall wird nicht abgeschlossen, aber Louise Boni scheint ihr Leben in den Griff zu kriegen.
Eines der großen Talente von Magdalen Nabb besteht darin, die diffusen Gedanken ihrer Hauptfigur sichtbar zu machen. Wie sich der Polizist Guarnaccia durch seine eigenen Ahnungen quält, wie er merkt, dass er dem eigenen Verstand nicht trauen kann und sich doch an entscheidende Details erinnert, die dem Fall manchmal eine ganz andere Wendung geben - das ist eine große Kunst. Eine Japanerin in Florenz, der dreizehnte Fall des Marciallo Guarnaccia, handelt einerseits von einer wunderschönen Liebe mit tödlichem Ausgang, andererseits vom Handwerkerviertel in Florenz. Eine Japanerin liegt tot in einem Park, die Ermittlungen verlaufen zäh, und plötzlich merkt der Marciallo, dass er einen großen Fehler gemacht hat, eine handwerkliche Eselei beging. Und dass deshalb jemand sterben musste. Eine Japanerin in Florenz sieht auf den ersten Blick ganz einfach konstruiert aus, erst am Ende merkt man, mit welch großem Geschick die Autorin ihre Geschichte entwarf, rechtzeitig Hinweise auf ein überraschendes Ende gab (das viel trauriger ist, als man am Anfang vermutet) und dabei ein Erzähltempo einhält, dass dem schwerfälligen und dennoch guten Kriminalisten Guarnaccia angemessen ist. Bei aller Spannung verfällt der Roman nie in Hektik, Tempowechsel werden durch Zeitsprünge erreicht, die man beinahe übersieht, und durch alles zieht sich ein feiner, unaufdringlicher, sehr englischer Humor, der nur an wenigen Stellen vergleichsweise aufdringlich aufblitzt: "Wie kam es nur, dass die meisten Kriminalbeamten Männer waren, die Probleme damit hatten, die eigenen Socken zu finden?".
Mit kabbalistisch-mythischen "Geheim"-Geschichten kann man im Moment die Straßen pflastern; und genau das sollte man auch tun. Denn die Dinger wühlen ja nicht nur in der Vulgärgeschichte angeblichen Geheimwissens, sie sind alle lausig konstruiert und noch lausiger geschrieben. Einer dieser Krimis, den wir aus Prinzip, nicht aus Genusssucht, tatsächlich zuende gelesen haben, ist Die Gerechten (von Sam Bourne). Die Geschichte wackelt an allen Enden (davon abgesehen, dass sie erst nach 83 Seiten beginnt und man sie etwa ab Seite 130 durchschaut), sie bezieht sich auf "geheime" jüdische Mythen, die jedem bekannt sind, der im Religionsunterricht nicht dauernd gefehlt hat, aufgeschrieben in einem klischeedurchseuchten Klapperdeutsch. Dafür präsentiert der Roman eine originelle Methode, die 36 "Gerechten" per GPS zu orten (jüdische Jahreszahl x Bibelspruch = Manhatten Süd, mit Hausnummer) und hetzt eine jederzeit blasse Hauptfigur durch eine fundamentalistische Verschwörung. Wenn der Held seine Frau sieht, denkt er nicht nur daran, dass er verliebt in sie ist, nein, er ist natürlich "bis über die Ohren" in sie verliebt - so geht das ständig. Und damit keine Missverständnisse aufkommen: Dan Brown, der diese Welle losgetreten hat, kann auch nicht schreiben, aber seine Plots sind etwas klüger konstruiert. Wer wirklich aus dem Themenkreis was lesen will, greife zu Cliffords Assassini oder Grubers Wendekreis der Nacht.
Wenn Dan Browns Sakrileg (im Original "The Da Vinci Code") von amerikanischen Bibel-Gläubigen gelesen wird, ist das nicht unkomisch. Der Da Vinci Code entschlüsselt rennt als Doppel-DVD und Hörbuch erstmal offenen Türen ein. Brown hat nicht nur seinen Mystery-Plot (Jesus hatte Kinder mit Frau Magdalena, der Gral ist die Jesus-Famile) aus einem früheren "Sachbuch" übernommen (dessen Autoren Baigent und Lee verklagen ihn gerade auf Tantieme). Schlimmer ist, dass alle "Fakten" nachweislich falsch sind. Das weiß man aus Dutzenden "entschlüsselt"-Werken und TV-Dokus. Die beste deckte schon vor Browns Buch auf, dass die "Bruderschaft von Sion" eine Fälschung ist. Sogar Teile der Krimi-Handlung stammen fast unverändert aus unbekannten Jesus-Thrillern. Letzteres deckten die fundamental-christlichen Anti-Brown-Forscher auf. Leider ist das Feature (wie die Extra-DVD) extrem langweilig aufbereitet und ergänzt die Erkenntnis "Brown lügt und stiehlt" mit einem penetranten Glaubensbekenntnis "Die Bibel sagt die Wahrheit". Wer das überhört, kann hier viel lernen. (VCL Film / Cine Plus)
Wenn schon Kirchenkrimi, dann gleich vom Kenner. Andreas Englisch ist seit 1995 im Pool jener Journalisten, die mit dem jeweils aktuellen Papst verreisen dürfen. Jetzt erschien sein Krimi-Debüt Der stille Gott der Wölfe als Taschenbuch. Darin taucht, klar, ein altes Manuskript auf, das "beweist", das Jesus nicht gekreuzigt, sondern in die Verbannung geschickt wurde. Mancherlei Intrige folgt, bis ein geheimnisvoller Kardinal am Ende sagt: veröffentlichen Sie alles, die Kirche muss sich Zweifeln aussetzen, die Suche nach Beweisen für die Richtigkeit der Bibel ist unchristlich, und so weiter... vermutlich schrieb sogar Dan Brown im Auftrag des Vatikans.
Noch 'ne Verschwörung, noch ein Buch, das sich mühsam liest und seine Reize nur im Plot hat. Jan Gaspard spinnt in Offenbarung ein krudes Garn, das vom realen, rätselhaften Tod des Hackers Tron 1998 in Berlin über den "Millenium Bug" und die Ermordung 2Pac Shakurs mitten in einen Jahrtausende alten Zwist zweier Geheimbruderschaften führt. Tron (Hackerkollegen nennen seinen bürgerlichen Namen nur abgekürzt "Boris F.") erscheint im ersten Kapitel wie Jesus am Ölberg, todesgewiss, und der Autor deutet im letzten Kapitel an, er habe damals die "Offenbarung" des Johannes geschrieben. Hui. Gaspard wollte wohl die Illuminati-Romane der 70er neu schreiben, heraus kam bestenfalls eine Fußnote.
Die Romane um den kanadischen Provinz-Cop John Cardinal sind Rückzugs-Geschichten. Geflohen aus Toronto, verjagt aus der eigenen Ehe (mit einer manisch depressiven Frau, die er traurig liebt), selbst seine Prinzipien hat er aufgegeben, ist Cardinal ein Mann auf dem Weg aus dieser Welt. Das ist in den Romanen von Giles Blunt nie das Hauptthema, aber es ist der Rote Faden, der die bisher drei Romane zusammenhält. Kalter Mond beginnt mit einer verwirrten, freundlichen jungen Frau, die sich an nichts erinnern kann. Erst im Krankenhaus entdeckt man, dass eine Kugel in ihrem Schädel steckt. Aus dieser Entdeckung entwickelt sich eine ziemlich blutige Lokalposse um Drogen, Kult-Morde, böse Biker und schwarze Fliegen (O-Titel: Black Fly Season), die den Einwohnern nördlich von Toronto das Leben zur Hölle machen. Kalter Mond ist, wie die anderen Blunt-Bücher, nicht brillant, aber verdammt solide geschrieben. Blunt beherrscht die Kunst, den Leser nicht mit seltsamen Twists zu überraschen und trotzdem einen guten Spannungsbogen aufzubauen.
Es hat beinahe was Rührendes, wie uns der Berliner Maas Verlag immer wieder Pulp-Autoren als "great american writers" präsentiert, zum Beispiel Charles Willeford, der nun wirklich ein bestenfalls mittelmäßig begabter Autor war (auch wenn die Krimi-Bibliothek der SZ ihm jetzt einen Band widmet; über die Auswahl der bayerischen Krimi-Kenner müsste man sowieso mal gesondert reden). Ketzerei in Orange hat eine schöne Idee: die Hauptfigur ist ein eitler Kunstkritiker, der für den Coup des Jahrhunderts einen Mord begeht. Leider weiß Willeford wirklich nichts über Kunst (obwohl er das mal studiert hat und seitenweise kluge Köpfe zitiert) und noch weniger über ihre Bedeutung. Oder anders: Seine Hauptfigur hat wirklich nur Grütze im Kopf, weil ihr Autor keine Ahnung hat, was sie denkt. Im wirklichen Leben ist Willeford übrigens auch mal Panzerkommandant gewesen; manche Berufe übt man nicht ohne inneren Grund aus.
Der Nautilus Verlag hat eine neue Reihe eröffnet: Unter dem Label Kaliber .64 erscheinen für 4,90 deutsche Krimigeschichten, die alle genau 64 Seiten lang sind. Bei den ersten drei Bänden (von Robert Brack, Carmen Korn und Robert Lynn) führt das allerdings nur dazu, dass die Storys krude, unglaubwürdig und stilistisch schwach gebaut sind. Zweimal fällt eine Frau aus dem Fenster, einmal liegt ein toter Mann in einem Hotelbett. Und dazu werden Sätze gereicht wie "Kirsten Valera war wie fast immer gut drauf gewesen" (Lynn). Oder: "Das Altpapier quoll aus dem Kontainer. Kein Wunder, dass diesem Wust keiner Bücher anvertrauen wollte." (Korn) - das ist ein Billig-Schreibstil, der keine 5,- Wert ist.
Seit 20 Jahren ermitteln die Cops vom 14. Hamburger Revier gegen Falschparker und Heckenpinkler, helfen Omis über die Straße und haben nur selten mit "richtigen" Krimi-Anlässen mit Todesfolge zu tun. Zur Feier des Jubiläums von Das Großstadtrevier erscheinen 5 DVD-Boxen mit je 12 Folgen aus den Jahren 1991 bis 1995. Dabei ist ein Special über Jan Feddersen, der 1991 als "Der Neue" unrasiert an Bord kam und die Serie fortan prägte. Von heute aus gesehen, wirkt das Großstadtrevier von 91 noch ein paar Jahrzehnte älter. So nett ist das alles. "Der Fahnder" ist Action-Kino dagegen. Jeder "Tatort" ist "gesellschaftskritischer". Aber schön war es doch. (ARD Video)
Peter O'Donnell erfand in den 60ern die Comic-Figur Modesty Blaise. Die war einst eine moralische Verbrecher-Königin (no drugs!) und schlägt sich nun als reicher Twen mit Kampfkunst und sonstigem Körpereinsatz durch mannigfache internationale Abenteuer. Calamity Jane ist ihre Oma, Lara Croft ihre Enkelin. Der Comic-Strip lief 40 Jahre lang, es gab 11 Romane, die seit langem vergriffen sind, es gab einen Film in den 60ern und einen neulich (Mein Name ist Modesty), der von Quentin Tarantino produziert wurde und nichts taugt. Und es gibt inzwischen 3 Romane in Neuauflage, etwas wahllos aus dem Gesamt-Oevre herausgeklaubt. Als letzter erschien gerade Operation Säbelzahn, der zweite in der Originalreihenfolge. Modesty wird gekidnappt und gezwungen, von Afghanistan aus eine Söldnertruppe gegen Kuwait zu führen. Ach, naive Zeit der großen Taten in noch unbelasteten Wüsten, als starke Frauen mit Abenteuerlust nur bestenfalls Emma Peel werden konnten.
-aco/thf/vl/wing-

Leif Davidsen: Der Feind im Spiegel (Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle, Zsolnay, München/Wien 2006, 395 S., 19,90 ISBN: 3552053646
Robert Brack: Haie zu Fischstäbchen Edition Nautilus, Berlin 2005, 191 S., 12,90 ISBN: 3894014660
Oliver Bottini: Im Sommer der Mörder Scherz, Frankfurt 2006, 460 S., 14,90 ISBN: 350211000X
Magdalen Nabb: Eine Japanerin in Florenz Aus dem Englischen von Ursula Kösters-Roth. Diogenes, Zürich 2006, 343 S., 19,90 ISBN: 3257065248
Sam Bourne: Die Gerechten Aus dem Englischen von Rainer Schmidt, Scherz, Frankfurt 2006, 446 S., 17,90 ISBN: 3502100241
Andreas Englisch: Der stille Gott der Wölfe BLT, Bergisch Gladb. 2005, 399 S., 8,95 ISBN: 3404921941
Jan Gaspard: Offenbarung Bastei, Bergisch Gladbach 2005, 301 S., 6,95 ISBN: 3404154819
Giles Blunt: Kalter Mond Aus dem Englischen von Anke und Eberhardt Kreutzer. Droemer, München 2005, 441 S., 19,90, ISBN: 3426196638
Charles Willeford: Ketzerei in Orange Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmid. Maas, Berlin 2005, 219 S., 12,80 ISBN: 3937755004
Peter O'Donnell: Operation Säbelzahn Aus dem Englischen von Anton und Adele Stuzka. Union, Zürich 2006, 319 S., 9,90 ISBN: 3293203639