DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (18. Lieferung)

Die Nike Morde
und hier die vorherige-Ausgabe




Die Sportschuh-Firma "Nike" bringt einen neuen Schuh heraus. Weil die Nachfrage nicht groß genug ist, hat die Marketing-Abteilung eine Idee: Landesweit sollen 10 Schuh-Käufer beim Einkauf erschossen werden, damit es so aussieht, als würden die Kids sich für diese Schuhe gegenseitig umbringen. Das ist die Ausgangsidee in Max Barrys Roman Logoland, wo der Kapitalismus sein Endstadium erreicht hat. Weltweit gibt es nur noch zwei große Konzern-Gruppen, die mit allen Mitteln gegeneinander arbeiten. Aus der "National Rifle Association" (NRA) ist eine Söldner-Truppe geworden, die für Mordaufträge aller Art angemietet werden kann. Die Polizei untersucht Morde nur dann, wenn Angehörige des Opfers ein Budget für Ermittlungen zur Verfügung stellen. Die Menschen haben keine persönlichen Nachnamen mehr, sondern heißen wie ihr Arbeitgeber: John Nike, Buy Matsui - oder eben Jennifer Government, die Regierungsagentin, die in den Nike-Morden ermittelt. Die schöne neue Lala-Welt hat sich Barry sehr detailverliebt und einleuchtend ausgedacht, Logoland ist sozusagen der Krimi zum "Attac"-Feeling, die Idee der "freien Märkte" ist schön zynisch zuende gedacht. Die heftigste Strafe in so einer Welt besteht darin, dass der böse Konzernchef später arbeitslos wird. Der Plot ist eher bieder, überschaubar und mäßig spannend. Die brave Polizistin gegen den bösen Konzernmanager - das ist was fürs gute Gewissen, aber keine gute Geschichte.


Norbert Horst ist ein richtiger Kriminalkommissar (in Bielefeld) und hat jetzt seinen ersten Kriminalroman geschrieben - nicht über Bielefeld, darauf besteht er. Schließlich soll Leichensache nicht noch ein Wanderführer in der Regio-Crime-Ecke sein, sondern ein authentisches Porträt der Arbeit in einer Mordkommission. Dazu wirft Horst mit allerlei Fachbegriffen unerklärt um sich und federt das Gähnen der Nicht-Eingeweihten ab mit einem hechelnden, fast expressionistischen inneren Monolog seiner männlichen Hauptperson. Die denkt bei der Obduktion gern mal an die süsse Türkin vom Grill gegenüber, liebt schwarze Haare an allen Stellen und watet durch einen ziemlich ekligen Fall. Ein paar Hiebe für Kenner sind auch drin, aber welcher Ermittler würde nicht seinen Polizeipräsidenten eine Flasche nennen, pressegeile Kollegen zum Kotzen und die tägliche Gedankenlosigkeit der überarbeiteten Grünen zum Schulterzucken? Auffällig ist die völlig normale Multikulturalität. Der Döner-Mann ist keine Sozialdrama-Figur, der Leichenbeschauer aus Ghana kriegt keine Rassismus-Szene ... alles ist Alltag, unspannend, aber kompliziert.


Sherlock Holmes gibt's ja eigentlich gar nicht, aber inzwischen gibt es mehr Stories über ihn als sich Conan Doyle je träumen ließ. Das Genre "aus Watsons Archiv" ist seit den Lebzeiten des beratenden Detektivs ein florierendes. Allerdings nur für Liebhaber: eine gute Pseudo-Holmes-Story, gibt Mike Ashley, der Herausgeber des Sammelbandes Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton zu, ist für Normal-Leser bloß langweilig. Afficionados aber schätzen den kreativen Umgang mit bekannten Mustern, die Einordnung eine fiktive Biografie, das pikante Detail, den Stil. Davon hat Der Fluch jede Menge. Einige bekannte Autoren, nicht direkt aus dem Krimi-Fach (Edward Hoch, Eric Brown, Michael Moorcock, Stephen Baxter) und zwei Dutzend uns eher unbekannte (Amy Myers, Peter Tremayne, H.R.F. Keating) beschreiben meist Fälle, die der "echte" Watson zwar erwähnte, aber auszuformulieren versäumte. Etwa wie Holmes einmal H.G. Wells traf oder den deutschen Kaiser zur Abdankung bewegte.

Es beginnt ganz harmlos: ein verschwundener Mann soll gesucht werden, der viel Geld erben wird. Ein anderer Mann wird scheinbar sinnlos erstochen. Und ein Sohn taucht unverhofft auf, der seinen Vater sucht ... was als gut geordnete Verwirrung beginnt, steigert sich im Verlauf der Geschichte zu einer gigantischen Tragödie, einer, deren Schmerz sogar die Hauptfigur erreicht, den Detektiv Lew Archer, erfunden von Ross Macdonald. In Der Fall Galton entwickelt sich alles immer anders als erwartet und doch vollkommen logisch. Dabei braucht Macdonald für die große Geschichte keine großen Worte, sein Stil ist hart und lakonisch wie der von Hammett. Und alle Frauen sind hier sowas von überwältigend gut, mutig, aufopferungswillig, dass es ein Wunder ist, wenn die feminstische Literatur nicht endlich diesen Autor entdeckt. Diogenes will bis 2005 eine Macdonald-Werkausgabe vorgelegt haben, Der Fall Galton ist gerade, leider in alter Übersetzung, wieder aufgelegt worden.


D.B. Blettenberg kennt sich aus. In der Welt (Entwicklungshelfer in Ecuador, Thailand und Nicaragua), im Krimi (allerlei Deutsche Krimi-Preise) und im Kino. In Siamesische Hunde zum Beispiel erzählt eine Figur die wahre Geschichte der Brücke am River Kwai, und der ganze Roman erzählt eine erfundene Geschichte über den echten, im Dschungel verschwundenen Seidenkönig Jim Thompson. Einige echte organisierte Verbrecher kommen auch vor, tumbe Reporter, zynisch gewordene Entwicklungshelfer, arbeitslose Hunde-Killer (eine tote Töle bringt 5 Baht, eine Nacht mit einer Nutte kostet 50) ... bunt ist das Personal und undurchsichtig. Manchmal verläuft man sich in Blettenbergs fremder, dampfender Welt zwischen Reportage und Krimi, und an den meisten Stellen möchte man sich gar nicht vorstellen, wie der Film (Bangkok Story) aussieht, den Manfred Durniok mit Heiner Lauterbach und Rolf Hoppe 1988 daraus gemacht hat. Die erste Auflage erschien 1987 bei Ullstein, der Bielefelder Pendragon-Verlag legt Siamesische Hunde wieder auf, um den Weg für den im Herbst bei ihm erscheinenden neuen Blettenberg zu bereiten.


Thomas Glavinic hat letztes Jahr einen Glauser-Preis gekriegt für Der Kameramörder, der Roman ist aber trotzdem eher interessant als gut. Im Stil eines Vernehmungsprotokolles schreibt die Hauptperson alles auf, was in den letzten Tagen geschah: zwei Paare machen Wochenendurlaub auf dem Lande, im TV gibt's Berichte von einem fiesen Kindermord in der Gegend, man spielt Tischtennis, diskutiert den Fall, geht aufs Klo, ist angewidert oder news-geil, beobachtet die Videoaufzeichnung, die der Mörder machte und die nun im TV läuft ... und am Ende kann man durch die Augen des Berichterstatters im Fernsehen sehen, wie die Polizei das Haus der Urlauber umstellt. Oha, das hätte eine lärmende Medien-Kritik werden können - jetzt ist es eine Tortur zu lesen; ohne Absätze und Kapitel quält sich der Text dahin, bis der letzte Satz den Effekt macht, der einer Kurzgeschichte wohl angestanden hätte. Für ein ganzes Buch ist es entschieden zu viel Kunst.


1952 wird in Nordirland die 19jährige Patricia Curran ermordet aufgefunden, von Messerstichen zerfetzt. Der Fall ist authentisch, verurteilt wurde damals ein junger Soldat, der dumm genug war, ins Visier der unter Erfolgszwang stehenden Ermittler zu geraten. Eoin McNamee trägt in seinem Buch Blue Tango den Fall noch einmal vor, ergänzt um neue Fakten und im Tonfall eines Romans. McNamee gibt an, dass es hier ohne Spekulation nicht geht, und so versetzt er sich hinein in eine irische Kleinstadt Anfang der 50er, wo die kesse Patrica, Tochter eines Richters, angeblich ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann haben soll. Wo ihr Vater, der Richter, bis zum Hals in Spielschulden steckt, andereseits den Polizeichef gut genug kennt, dass der anordnet, die Familie des Richters dürfe nicht einmal befragt werden. Als der lokale Ermittler langsam auf die richtige Spur kommt, werden zwei Ermittler von Scotland Yard hinzugezogen, die den Fall in die gewünschte Richtung lenken. Blue Tango ist von tiefer Melancholie und Trauer durchzogen, von Mitleid mit einer jungen Frau, die zu ahnen schien, dass sie an dieser Gesellschaft sterben werde und trotzdem nicht bereit war, nachzugeben. Der wahre Tathergang, der angedeutet wird, ist entsetzlicher als alles, was in den Protokollen steht.


Gabriella Wollenhaupt ist als TV-Redakteurin in Dortmund wohl nicht ausgelastet. Seit 1993 schrieb sie 13 Krimis um die Zeitungs-Redakteurin Maria Grappa in "Bierstadt" - und jetzt Grappa im Netz. Ans lokale Verlegerfernsehen ausgeliehen, soll die freche Frau eine Flirt-Show betreuen, gerät aber in eine feministische Feme-Serie. Vernachlässigte Hausfrauen bringen fiese Möppe um. Es gibt einen ziemlich finsteren Hintergrund, aber hauptsächlich gibt es Flachs über den Medienbetrieb und bestenfalls halb-genau recherchierte Dönekes aus Chatrooms und Unzucht-Business. Ein Scherz aber ist gelungen: am Anfang wird der Bürgermeister im Jemen entführt, scheinbar ist das der Hauptfall hinter allem, aber am Ende sitzt er des Nachts wieder im Rathaus und arbeitet "Einer muss doch das Chaos beseitigen, dass sie auf den letzten 248 Seiten angerichtet haben."
-aco/vl/thf/wing-
Max Barry: Logoland Aus dem Englischen von Anja Schünemann, Heyne, München 2003, 400 S., 12,- ISBN: 3453869478
Norbert Horst: Leichensache Goldmann, München 2003, 284 S., 7,90 ISBN: 3442452309
Mike Ashley (Hrsg.): Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton div. Übersetzer, Bastei, Bergisch Gladbach 2003, 764 S., 10,- ISBN: 3404149165
Ross MacDonald: Der Fall Galton. Aus dem Amerikanischen von Egon Lothar Wenks. Diogenes, Zürich 1976/2003, 276 S., 9,90 ISBN: 325720325X
D.B. Blettennberg: Siamesische Hunde. Pendragon, Bielefeld 2003, 336 S, 12,80 ISBN: 3934872506
Thomas Glavinic: Der Kameramörder dtv, München 2003, 157 S., 8,- ISBN: 3423206187
Eoin McNamee: Blue Tango. Aus dem Englischen von Hansjörg Schertenleib. C.H.Beck, München 2003, 304 S., 19,90 ISBN: 3406502636
Gabriella Wollenhaupt: Grappa im Netz. grafit, Dortmund 2003, 248 S., 8,90 ISBN: 3894252782