DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (17. Lieferung)
Spurensuche und hier die vorherige-Ausgabe Luis Fernando Verissimo schreibt in Brasilien Kurzgeschichten. Auch Vogelsteins Verwirrung ist nicht lang (158 Seiten), aber so voller Knoten, dass man's mindestens zweimal liest. Auf einem Kongress über Edgar Allan Poe wird ein Referent umgebracht, typischerweise in einem von innen verschlossenen Zimmer, Jorge Luis Borges, der große alte Mann der Rätselliteratur, steht zufällig im Foyer, und unser Autor schickt eine Person namens Vogelstein zum Ermitteln und Erzählen. Und schickt das Manuskript (ohne Mörder) an Borges (den echten?), der zurückkommentierend mindestens den Autor als Täter entlarvt. Das ist offensichtlich eine Seminar-Übung in Erzählhaltung, aber es riecht dahinter nach verborgenem Sinn, der sich womöglich nur echten Lateinamerikanern erhellt. Falls es Verissimo überhaupt gibt. Na sowas, kaum lernen wir endlich Wolf Hass kennen und auf der Stelle schätzen, da hört der einfach auf. Das ewige Leben ist jedenfalls der sechste und letzte Krimi um den seltsamen österreicher Privatdetektiv Simon Brenner. Der wiederum liegt am Anfang des Buches unter Selbstmordverdacht in der Klinik. So geht das weiter, immer erzählt von einer leicht beschränkten Nebenfigur, die eigentlich nicht wissen kann, was los ist, und schon gar nix versteht. Ist auch egal, eine Jugendsünde kommt auf, alte Rechnungen platzen dahinter, allerlei geschieht - aber nur als Anlass, darüber reden zu lassen. Die Stimme hat schon 5 Brenner-Romane erzählt, einige Krimi-Preise und viel Feuilleton-Lob geholt. Demnächst will Wolf Haas was anderes schreiben, aber weiter "wie die Wildsau" und ebenso banal wie weise: "Wo fängt das Private an? Das Private kann man ganz leicht daran erkennen, dass einem meistens schlecht davon wird." Es fängt, wie immer, recht gemütlich an: ein aufgebrachter Rentner stürmt das Büro eines betrügerischen Finanzmaklers, der sich mit viel Geld abgesetzt hat. Der Rentner droht, die Sekretärin zu erschießen, wenn er nicht sofort sein Geld zurückbekommen. Gottseidank kann Kommissar Montalbano den Mann überreden, die Waffe wegzulegen. Aber jetzt ist der Kommissar neugierig, was es mit diesem Fall auf sich hat. "Da hat die Mafia die Hand im Spiel!", sagen Montalbanos Kollegen vom Betrugsdezernat. Montalbano glaubt das nicht, schon deshalb nicht, weil die Mafia nicht so blöd ist, einem windigen Finanzjongleur aufzusitzen - zwei bemerkenswerte Stellen gibt es in Der Kavalier der späten Stunde, dem 8. Montalbano-Roman von Andrea Camilleri. Zum einen läßt er eine junge Frau auftreten, lasziv, sexy, mit blusensprengendem Busen und ganz darauf auf, den alten Kommissar um die Ruhe seines Blutdrucks zu bringen. Aber als sie mit ihren Spielchen fertig ist, stellt die junge Frau dem Kommissar genau die Fragen zu dem Fall, die er sich hätte stellen müssen. Und Montalbano merkt: sie ist klug, sensibel, liebenswert. Der zweite schöne Punkt des ansonsten wieder reichlich skurril angelegten Romans ist jener, an dem der Kommissar erklärt, was für ihn "finanzoman" sei: "Finanzoman sind für mich Leute, die sich mit Geld beschäftigen. Vom Geld als solchem verstehen oder ahnen sie alles, Stunde für Stunde, Minute für Minute. Sie kennen es wie sich selbst, sie wissen, wie das Geld gepinkelt hat, wie es geschissen hat, wie es gegessen hat, wie es geschlafen hat und wie es am Morgen aufgewacht ist, wann es einen guten Tag und wann es einen schlechten Tag hat, wann es Kinder kriegen das heißt weiteres Geld hervorbringen will, wann es von Selbstmordgedanken getrieben ist, wann es steril sein, sogar wann es einen Fick ohne Folgen haben will." Andrea Camilleri ist vor allem ein Meister des Brief-Romans, der Dossier-Literatur: Der zweite Kuss des Judas, gerade erschienen, spielt im 19. Jahrhundert in Vigata, der (erdachten) Stadt von Montalbano und fast allen anderen Camilleri-Romane. Ein Bankdirektor verschwindet spurlos, direkt nach einer Passions-Aufführung, in der er den Judas spielte. Zwei Polizisten, anfangs spinnefeind, schreiben ihren Vorgesetzten Berichte über ihre Ermittlungen: Dass der verschwundene ein achtbarter Bürger war, dass bei der Bank, für die er arbeitete, wirklich alles in Ordnung war, dass seine Ehefrau sich auch nicht erklären kann, wieso ... aber in die Briefe schleichen sich immer mehr Zweifel ein, den Polizisten, inzwischen durch die Ermittlungen offensichtlich gute Freunde geworden, fallen inzwischen Fragen ein, von deren Antworten die oberen Dienststellen wirklich nichts wissen wollen. Andere Briefe tauchen auf: ein Bischof interveniert, ein Senator, die oberste Polizeidienststelle gibt den Druck weiter nach unten - es ist alles sehr komisch, beinahe Volkstheater (Camilleri inszeniert gerne fürs Theater), und gegen Ende haben wir eine sehr begründete Vermutung, was wirklich passiert ist, auch wenn der offizielle Bericht ganz anders aussieht. Mit keinem eigenen Wort schaltet sich der Autor ein, er reiht nur Briefe und Zeitungsauschnitte aneinander. Wie komisch das sein kann und dass dabei auch noch ein netter Krimi herauskommt - das kann man nur bei Camilleri nachlesen. Die 20jährige Rune aus Ohio liebt alte Filme und Märchen. Und obwohl sie in New York wohnt, ist die Stadt für sie ein einziges Märchenland, wo schwarze und weiße Ritter, Dämonen und Trolle hausen. Ansonsten ist Rune ("Ist das Ihr richtiger Name?" - "Im Moment schon") ein bißchen klein geraten und eher mager, was es doppelt schwer macht, sich in einer Großstadt zu behaupten, vor allem, wenn man in einer Schmuddelvideothek sein Geld verdient. Rune soll eines Tages ein Video abholen, aber der alte Mann, der sich den Film "Manhattan Beat" bereits 17mal ausgeliehen hat, sitzt tot in seinem Sessel, ermordet von Profikillern. Rune ist von der Art, wie die Polizei den Fall behandelt, nicht überzeugt und stellt eigene Ermittlungen an. Aus diesem leicht märchenhaften Plot hat Jeffery Deaver sein Buch Manhattan Beat gebaut, das ein bißchen verrückt und ein bißchen realistisch ist. Wie Rune mitten in einen Mafia-Auftragsmord gerät, ihren Weißen Ritter findet und doch nicht findet, wie am Ende alles gut wird und wie man als junges Mädchen sich den Zumutungen einer Stadt erwehrt, die von einer Frau verlangt, entweder Hure oder Anwältin zu werden, das steht alles da drin. Man möchte die kesse Art bewundern, mit der Rune sich alle Erwartungen vom Hals schafft, andererseits kommt man kaum dazu, weil das Buch einfach spannend ist. So irreal Runes Märchenwelt ist, so realistisch ist die andere Seite, die der Mafia, Auftragskiller und Anwälte. Das ist schon lange nicht mehr derart unterhaltsam aufeinandergeprallt. Rainer Fabian war viele Jahre lang Reporter, jetzt erfindet er seine erlebten Geschichten neu. Und erstmal überhaupt nicht im "Ich war dabei"-Ton, sondern eher als pessimistische Bildungs-Reise ins Herz der Wildnis. Fabians Debüt Das Rauschen der Welt handelt vom Journalisten Kohnert, der, von einem seltsamen Anruf nach Lateinamerika gelockt, einen grossen Terroristen und möglichen Mörder Kohnerts Frau jagt. Und vom Terroristen Pizarro, der als Student in Frankfurt polit-ästhetische Anschläge auf Bibliotheken durchführte und später zu einem Klang-Collagen-Künstler wurde, weil bloße Schiesserei zu banal ist. Es gibt eine lange Ermittlung entlang einer Tonband-Cassette mit Geräuschen, es gibt zu viel Bildung, zu viele Kunst-Griffe, und dann sitzen alle im Busch. Da passiert gar nichts mehr, aber die Beschreibung wird klarer, während der Ermittler im Fieberwahn versinkt. Magischer Realismus in europäischer HiFi-Abmischung. Interessant, etwas mühsam, und mit leeren Stellen. In den 80ern hatte der Polit-Krimi in Frankreich eine Hoch-Zeit. Von 1984 ist Didier Daeninckx' Roman Bei Erinnerung Mord, der jetzt erst auf Deutsch erscheint. Das Buch hat alle Unarten des "Tendenz-Romans": schlechte Figurenzeichnung, platte Thesen, finstere Vermutungen. Ein Mord an einem jungen Mann führt den Kommissar in die 60er zurück, als in Paris ein Massaker unter Algeriern angerichtet wird. Tatsächlich reicht die Spur der Geschichte aber weiter zurück, viel weiter. Dass Daeninckx heute als Meister des "roman noir" gefeiert wird, kann nur daran liegen, dass niemand Jean-Francois Vilar kennt, dessen Bücher aus dem deutschen Sprachraum inzwischen verschwunden sind. Doris Gercke, unbeugsame Einzelkämpferin für den relevanten Krimi, hat vor 10 Jahren eine Zukunftsgeschichte geschrieben. Jetzt wird sie wieder aufgelegt: Kein fremder Land. Es geht um einen Rechtsruck in der BRD und die Rolle der politischen Unterhaltungsschriftstellerin. Die wird vorne Ehrenbürgerin und hinten erschossen, so gerade sieht die Gercke die Welt. Es gibt keine Dialoge, es gibt etwas Mittelstands-Kitsch, Naturschwelgen auf Mallorca, viel Hoffnungslosigkeit, Polizeiwillkür ... Gercke-Bücher machen niemanden glücklich. Warum auch? "Sie hasst ihre Personen", sagt jedenfalls Gerckes Autorin über sie. 1980 veröffentlichte Jef Geeraerts einen Krimi, der 10 Jahre später spielt: Coltmorde handelt vom Tod einer ehrbaren Dame und eines zwiellichtigen Generals und wie das alles zusammenhängt. Wichtiger aber ist der ausgedachte Hintergrund: 1990, so spekulierte Geeraerts, wird die belgische Polizei alle Überwachungsmittel besitzen, die man braucht, um Bürger einzuschüchtern. Es gibt keine demokratische Kontrolle mehr, der Polizeiapparat regiert (und schützt) sich selbst. Mit Erschrecken stellt man anläßlich der Wiederveröffentlichung fest, dass diese Visionen heute zum Großteil vollkommen harmos wirken. Was 1980 noch wie ein Albtraum wirkte - alle Daten per Knopfdruck für jeden Cop jederzeit abrufbar - steht alles europäischen Ermittlern längst und unkontrolliert zur Verfügung. Und die Amis machen vor, dass man Verbrecher nicht mehr per Prozess, sondern per Rakete der Strafe zuführt. So grimmig Coltmorde geschrieben wurde, so erbärmlich sind seine Helden. Mit sardonischer Freude dichtet Geeraerts der belgischen Polizei eine geradezu krankhafte Fixierung auf alles Amerikanische an, Männer und Frauen haben einander nichts mehr zu sagen, jeder will nur Macht und Kontrolle über den Anderen. Am Ende sind ein Mörder und knapp ein Dutzend Unschuldige tot, mit Gerechtigkeit hat das alles nichts zu tun. Wie immer benutzt Geeraerts vielfach recht derbe Sexszenen, um die Deformation seiner Figuren zu beschreiben - Coltmorde ist ebenso deprimierend wie spannend. Christoph Güsken ist nur für Extrem-Witzler auszuhalten oder für Leute, die unbedingt noch einen Münster-Krimi-Autor hinter Jürgen Kehrer brauchen. Netter Einfall immerhin, Lambertis Fluch mit einer Schutzgeld-Erpressung bei einem Edel-Arzt anfangen zu lassen, aber sobald die Hauptfigur, ein - was sonst? - Loser-Detektiv, die verquollenen Augen öffnet, stolpern schräge Einfälle (ein Horror-Film-Dreh als Tat-Tarnung) und lahme Einwürfe (diese Stadt hat keine Unterwelt, die hat ja nicht mal eine U-Bahn) übereinander. Mit einem Straßenregister wär's wenigstens als Reiseführer gut. Dass man eine Krimi-Satire schreiben kann, ohne die Verhältnisse lächerlich zu machen, ist in Der Tequila-Effekt von Rolo Diez nachzulesen. Der Held ist ein korrupter mexikanischer Cop, Bigamist, Zuhälter, Macho, Schwanz-Denker, der in einem Mordfall ermitteln soll, bei dem ein weißer Gringo, ein US-Amerikaner, umkam. Sehr bald stellt sich heraus, dass der Ami Pornos drehte, Gewalt-Pornos der übelsten Sorte, und dass die halbe High Society von Mexiko an seinen Orgien teilnahm. Weshalb dem Cop, der wirklich jede Frau bumsen will, die ihm in dem Fall begegnet (außer seine 15jährige Tochter, natürlich, sein Augapfel), am Ende seelenruhig alles unter den Teppich kehrt. Das ist einerseits ziemlich widerlich, andererseits zeigt Diez, dass dem armen Mann gar keine Wahl bleibt. Die satirischen Ansätze sind eher subtil, weshalb der Held in seiner Erbärmlichkeit bis zum Ende interessant bleibt, die kriminelle Wirklichkeit schildert Diez hingegen, dass sich einem der Magen umdrehen möchte. 1994 erschien Cut Out von Christopher G. Moore, der seinen edlen und armen Detektiv Vincent Calvino nach Kambodscha schickt, wo er ein traumatisiertes Post-Pol Pot-Land erlebt, in dem die UN-Soldaten zwar irgendwie da sind aber auch nichts bewirken, und wo ein "ziviler" Mord keinerlei Schrecken besitzt. Moore war 1993 als Reporter in Kambodscha, und das ist ihm sichtlich nahegegangen. Seine immer wieder eingeflochtenen Bemerkungen über Gott und die Welt, das Böse und warum man es nicht wegkriegt, tragen den eigentlch schlichten "Ich suche einen Mann, der nicht gefunden werden will"-Plot oft aus der Kurve. Dabei ist Stunde null in Phnom Penh (wie der Roman - orthographisch durchaus eigenwillig - jetzt auf Deutsch heißt) gerade dann erschütternd, wenn Moore einfach nur beschreibt: die Kinder-Huren, die UN-Soldaten, von denen sie gefickt werden, gestrandete Europäer, Glücksritter, heruntergekommene Straßen und Hotels - und mittendrin ein Detektiv aus Bangkok, der glaubte, schon alles Elend dieser Welt gesehen zu haben. -aco/vl/thf/wing-
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Luis Fernando Verissimo: Vogelsteins Verwirrung Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita. Droemer, München 2003, 158 S., 16.90 ISBN: 3426196174 Wolf Hass: Das ewige Leben Hoffmann und Campe, Hamburg 2003, 222 S., 17.90 ISBN: 3455025595 Andrea Camilleri: Der Kavalier der späten Stunde Aus dem Italienischen von Christine v. Bechtolsheim. editionLübbe, Bergisch-Gladbach 2002, 251 S., 18,- ISBN: 3785715331 Andrea Camilleri: Der zweite Kuss des Judas Aus dem Italienischen von Christine v. Bechtolsheim. editionLübbe, Bergisch-Gladbach 2003, 251 S., 18,- ISBN: 3785715366 Jeffery Deaver: Manhattan Beat Aus dem Amerikanischen von Gerold Hens. Rotbuch, Hamburg 2002, 321 S., 19,90 ISBN: 3434531130 Rainer Fabian: Das Rauschen der Welt Klett-Cotta, Stuttgart 2003, 380 S., 22,50 ISBN: 3608936513 Didier Daeninckx: Bei Erinnerung Mord Aus dem Französischen von Stefan Linster. Distel, Heilbronn 2003, 213 S., 12,80 ISBN: 3923208561 Doris Gercke: Kein fremder Land Edition Nautilus, Hamburg 2003, 256 S., 12.90 ISBN: 3894014091 Jef Geeraerts: Coltmorde Aus dem Niederländischen von Alexander und Christiane Pankow, Union, Zürich 2003, 284 S., 9,90,- ISBN: 3293202543 Christoph Güsken: Lambertis Fluch grafit, Dortmund 2003, 201 S., 7,90 ISBN: 3894252758 Rolo Diez: Der Tequila-Effekt Aus dem Spanischen von Horst Rosenberger. Distel, Heilbronn 2003, 181 S., 10,80 ISBN: 3923208707 Christopher G. Moore: Stunde null in Phnom Penh Aus dem Englischen von Peter Friedrich, Union, Zürich 2003, 319 S., 10,90 ISBN: 3293202608 |