TILDA SWINTON ÜBER »JULIA«

Wenn Mütter es vermasseln...

Tilda Swinton hat überaus originelle Ansichten übers Filmemachen, über Alkohol und kleine Kinder.


Die Kritik zum Film

Sie spielen eine Alkoholikerin. Kennen Sie das Gefühl, süchtig zu sein?

Ich war immer schlecht mit Drogen und Alkohol. In meinem Leben war ich vielleicht ein paar Mal betrunken und dann bin ich immer gleich eingeschlafen. Am Anfang war ich ein wenig nervös, weil ich so gut wie keine eigenen Suchterfahrungen habe. Aber ich hatte schon oft indirekt mit Alkoholismus zu tun. Bei den Proben habe ich dann gemerkt, dass es total einfach ist, das zu spielen, weil ich eigentlich mein ganzes Leben lang auf Partys oder im Pub immer so getan habe, als sei ich auch betrunken. Und wenn die Polizei kam, war ich immer diejenige, die plötzlich nüchtern sein konnte und die Leute nach Hause gefahren hat.

Als Julia den Jungen entführt, geht sie nicht gerade zimperlich mit ihm um. Wie dreht man solche Szenen mit einem Zehnjährigen?

Es ist ein Spiel. Ich habe zwei Kinder im selben Alter. Kinder kennen sich mit Spielen sehr gut aus. Mehr als die gut ausgebildeten, erwachsenen Schauspieler. Aidian Gould ist ein ausgesprochen intelligenter Junge. Er war sehr daran interessiert mit dieser exotischen Erwachsenen, die sich eigentlich wie ein Kind benimmt, zusammen zu sein. Julia ist eine Frau, die keinen Funken Mutterinstinkt in sich trägt. Sie behandelt den Jungen wie ein Paket oder ein Haustier, mit dem sie klar kommen muss. Die Beiden sind ein seltsames Paar. Sie redet die ganze Zeit und erfindet immer neue Lügen. Der Junge spricht wenig, und wenn er den Mund aufmacht, sagt er einfach nur die Wahrheit.

Warum wollten Sie diese Rolle unbedingt haben?

Es gibt in unserer Gesellschaft die seltsame Vorstellung, dass jede Frau diese Mutterinstinkte in sich trägt. Aber ich kenne viele Frauen mit Kindern, die sich schämen, weil sie das Mutterdasein nicht genießen und keine richtige Verbindung dazu aufbauen können. Ich wollte mit dem Film dieses Stereotyp einmal herausfordern. Wenn man sich die Zeitungen und Magazine anschaut, liest man immer wieder über Mütter, deren Kinder verwahrlosen. Es scheint in unserer Kultur einen seltsamen Hunger nach solchen Geschichten zu geben, in denen Mütter alles vermasseln. Ich weiß nicht genau, woran das liegt. Vielleicht ist dies das letzte Tabu: eine Frau ohne Mutterinstinkt, die den Alkohol der Liebe zu ihren Kindern vorzieht.

Von den Filmen Derek Jarmans bis zu den "Chroniken der Narnia" deckt ihre Filmografie ein sehr weites Spektrum ab. Wie suchen Sie Ihre Rollen aus?

Ich entscheide mich immer auf der gleichen Basis: das Gespräch mit dem Filmemacher. Bei Derek Jarman habe ich gelernt, dass das Gespräch immer zuerst kommt. Aus dem Gespräch entsteht ein Projekt und aus dem Projekt meine Rolle. Die wichtigste Frage ist immer: Möchte ich diese Person um mich haben, in der Zeit der Vorproduktion, was beim Independent-Film schon einmal fünf Jahre sein können, auf dem Filmset und später, wenn man mit dem fertigen Film durch die halbe Welt reist? Kann man darauf mit "Ja" antworten, hat man nichts zu verlieren, egal was aus dem Film wird. Für mich ist der Prozess immer wichtiger als das Endprodukt.

Und das gilt auch für Hollywood-Produktionen?

Ja, das macht keinen Unterscheid. Für Die Chroniken der Narnia habe ich mich entschieden, nachdem ich mit Andrew Adamson gesprochen hatte und klar war, dass ich mit ihm meine Zeit verbringen will. Da hatte ich das Skript noch gar nicht gelesen. Der einzige Unterschied zu den Independent-Produktionen ist, dass ich nicht noch selbst Geld ranschaffen muss.

Was lieben und was hassen Sie am Filmemachen?

Filmemachen ist ein Spiel, das mir großen Spaß bereitet. Ich liebe die Diskussionen mit Regisseuren, aber auch die technischen Aspekte des Filmemachens. Ich bin gerne auf Filmsets und ich mag die Gruppendynamik, die sich dort entwickelt. Das Einzige, was ich nicht mag, ist das Warten auf die Finanzierung, weil irgend so ein Firmen-Apparatschik die Sache blockiert. Oder zur Bank gehen zu müssen, um noch eine Hypothek auf mein Haus aufzunehmen, weil die Finanzierung des nächsten Projektes noch nicht steht und ich nicht weiß, wovon ich meine Familie ernähren soll.

Das wird sich ja vielleicht durch den Oscar, den Sie für "Michael Clayton" erhalten haben, ändern. Was bedeutet Ihnen das?

Mir persönlich? Nichts. Aber es freut mich, dass der Academy Award so viele Leute aus dem Team glücklich macht und diesem Film, auf den ich sehr stolz bin, helfen wird, sein Publikum zu finden.

Interview: Martin Schwickert