MARIA SCHRADER ÜBER »LIEBESLEBEN«

Ein kleiner Schwenk

Über »Liebesleben« und die Schwierigkeit, in Israel einen unpolitischen Film zu drehen


Der Film zum Interview

Zeruya Shalevs Roman als Vorlage für ein Regiedebüt - das ist ja nicht gerade eine einfache Aufgabe...
Das Buch wurde mir zugeschickt, weil ich eine Lesereise mit der Autorin machen sollte. Ich hatte schon abgesagt, bevor ich den Roman überhaupt in der Hand hatte. Der Verlag hat mir das Buch trotzdem zukommen lassen, ich trug es eine Weile in der Tasche, fand mich in einem Café am Hackeschen Markt wieder, habe darin herumgeblättert und konnte nicht mehr aufhören zu lesen. Jaras Gefühlswelt, ihre Art zu denken, ihr assoziatives Springen aus der Gegenwart in die Vergangenheit, die Art aus jeder schlichten Situation ein komplexes Gebilde zu machen - das war mir alles zutiefst vertraut. Ich habe sofort angerufen, dass ich diese Lesungen unbedingt machen will und bin mit Zeruya Shalev zehn Tage lang durch Deutschland, Österreich und die Schweiz gereist. Während dieser Lesereise entstand die Idee, daraus einen Film zu machen.
Warum verfällt Jara diesem Mann, obwohl sie merkt, dass er ihr nicht gut tut?
Für mich war ein entscheidender Punkt, dass sie Arie im Haus ihrer Eltern trifft. Der Amour-Fou-Aspekt hat mich eigentlich nicht so sehr interessiert wie die Tatsache, dass Jara schon in der ersten Szene erlebt, wie ihre Eltern vollkommen hysterisiert auf das Erscheinen dieses Mannes reagieren. Das weckt ihre Neugier. Er ist derjenige, der daraus eine sexuelle Begegnung macht. Es ist seine Art, diese Frau an sich zu binden, indem er sie verletzt. Jara wiederum ist ein Mensch, der da nicht gleich weggeht. Ein Erlebnis von einer solch negativen Kraft muss sie in etwas anderes verwandeln. Sie denkt: Solange Du mich so schlecht behandelst, wirst Du mich nicht los.
Inwieweit unterscheidet sich die Rolle der Familie in Israel von dem Stellenwert, den wir hier der Familie einräumen?
Zeruya Shalev hat immer gesagt, dass diese Geschichte vollkommen losgelöst von Israel besteht. Im Roman findet man auch kaum konkrete Ortsbeschreibungen. Aber es geht um eine Frau, Akademikerin, verheiratet, Mitte Zwanzig, die nur ein paar Straßen entfernt von ihren Eltern wohnt und mehrmals in der Woche dorthin geht. Sie lebt in einem ganz symbiotischen Verhältnis mit ihren Eltern. Und das kann man sich in Berlin oder einer anderen westeuropäischen Großstadt nicht so recht vorstellen. Als wir dann in Israel waren, haben wir festgestellt, dass die Geschichte sehr viel mehr in Israel verwurzelt ist, als Zeruya Shalev das vielleicht wahrhaben möchte. Familie hat in Israel einen anderen Status, auch wenn das den jeweiligen Familien nicht immer nur gut tut. Aber man geht dort mindestens zu jedem Sabbat zu den Eltern und kümmert sich um sie. Hinzu kommt, dass fast jede Familie von Schicksalsschlägen aus unterschiedlichen Phasen der Geschichte heimgesucht wurde, was einen anderen familiären Zusammenhalt und eine darüber hinausgehende Identifikation mit der Schicksalsgemeinschaft des jüdischen Staates bewirkt.
Die sexuellen Begegnungen zwischen Jara und Arie werden im Roman sehr direkt und ungefiltert beschrieben.
Der Roman ist in dieser Hinsicht ungeheuer explizit. In der filmischen Umsetzung war das für mich eine Gratwanderung zwischen der Gefahr der Prüderie und einer Direktheit, die man in Bildern nicht haben will, weil sie keinen Platz mehr für Fantasie und Rückzug lassen. Man kann da nicht weiter gehen, als die Schauspieler zu gehen bereit sind. Jedes Unwohlsein sieht man sofort. Da kann man nicht betrügen. Ich habe als Regisseurin immer mit offenen Karten gespielt und den Schauspielern genau gezeigt, was man sieht. Wirklich nackt sieht man Netta eigentlich nur, wenn es nicht um Sex geht. Dennoch: Diese Geschichte handelt davon, dass sich die Hauptfigur nackt macht.
Im Roman wie im Film finden sich nur sehr wenige Verweise auf die politische Situation in Israel. Trotzdem scheinen die Figuren von der angespannten Lage im Lande nicht unberührt zu sein.
Die zentrale Frage war für uns: Wie filmt man in Israel, wenn man die tagespolitische Problematik weder ignorieren noch in den Vordergrund setzen will? Diese Entscheidung mussten wir beim Drehen fast täglich treffen. Man schwenkt bei einer Stadttotalen nur ein bisschen weiter nach links und hat schon die Mauer im Bild. Wollen wir die Mauer zeigen oder nicht? Das Straßenbild in Jerusalem ist von Militärgrün und umgehängten Maschinegewehren geprägt. Wie viel wollen wir davon zeigen? Es gibt im Film nur drei oder vier Momente, in denen auf der Bildebene auf die politische Situation verwiesen wird. Aber unterschwellig schwingt die Lage im Lande immer mit. Das Leben in Jerusalem hat einen anderen Takt. Das spiegelt sich in Shalevs Sprache wieder, die eine gewisse Getriebenheit hat. Und das spürt man auch, wenn man wie wir dreieinhalb Monate dort lebt. Die Selbstverständlichkeit, das, was man tun will, auch noch morgen oder in drei Jahren tun zu können, gibt es dort nicht.

Interview: Martin Schwickert