Roland Emmerich über Deutschland, Shakespeare und seinen Film »Anonymous« Zu kalt!
Mit »Anonymous« greifen Sie ein Nationalheiligtum der englischen Literatur an. Macht das Ihnen auch ein bisschen Spaß, sich in die Nesseln zu setzen? Eigentlich dachte ich, die Gegner der These, dass der Earl of Oxford die Shakespeare-Stücke geschrieben hat, würden bei der Filmpremiere in London demonstrieren. Aber das haben sie dann doch nicht gemacht. Ich habe das Gefühl, dass sich immer weniger Leute in die Nesseln setzen wollen. Je angepasster desto besser. Aber ich bin der Meinung, dass Kunst provozieren und die Welt in frage stellen soll. Was macht Shakespeare Ihrer Meinung nach zu einem solch großen Dramatiker? Er hat die moderne Psychologie erfunden. Die meisten seiner Stücke sind nach Vorlagen wie etwa der italienischen Commedia dell' Arte entstanden, die er vor allem dahingehend veränderte, dass er die dunklen Seiten der menschlichen Psyche vertieft hat. Im Zentrum stand meistens eine Hauptfigur, die in eine Identitätskrise geraten war. Wie lange haben Sie sich mit Shakespeare beschäftigt? In Deutschland wächst man ja eher mit Goethe und Schiller auf, und das will man als Schüler auch nicht lesen. Da habe ich damals lieber einen modernen Roman unter dem Tisch gelesen: Sartre, Camus, André Gide, Thomas Mann oder Hermann Hesse. Mein Interesse an Shakespeare ist durch einige Verfilmungen - die Adaptionen von Kenneth Branagh und Baz Lurmans Romeo und Julia - geweckt worden. Als ich mich entschieden hatte Anonymous zu machen, habe ich erst einmal einen Crash-Kurs gemacht. Wie kam es dazu, dass Sie diesen urbritischen Stoff in Deutschland gedreht haben? Ich war zuvor oft in Berlin und hatte mich auch mit den Leuten vom Studio Babelsberg getroffen, die mir natürlich erzählt haben, wie toll das alles bei ihnen ist. Außerdem habe ich mir gesagt, wenn der Film um die 30 Millionen Dollar kostet, bekomme ich fünf Millionen von der deutschen Filmförderung. Solche Filme dürfen ja nicht so viel Geld kosten, weil sie nicht ganz so viel einspielen. Dann wusste ich natürlich auch, dass man mit einer deutschen Crew sehr effektiv und in einer Super-Qualität arbeiten kann. Wie hat sich Deutschland verändert, seit Sie nach Hollywood gegangen sind? Das ist ein völlig anderes Land. Deutschland ist nicht unbedingt freundlicher, aber auf jeden Fall weltoffener geworden. Ich bin früher immer nach Berlin gekommen, um meine Filme bei den Geyer-Werken kopieren zu lassen. Damals sah man in Westberlin hauptsächlich alte Leute und Studenten auf der Straße. Alles war grau. Jetzt herrscht in der Stadt ein vollkommen anderes Lebensgefühl. Nur die Taxifahrer sind immer noch schlecht drauf. Können Sie sich vorstellen, jetzt wieder öfter in Deutschland zu arbeiten? Drehen ja, leben nein. Das ist mir einfach zu kalt hier. Sie haben diesen Film komplett mit britischen Schauspielern besetzt. Wie unterscheidet sich die Arbeit mit ihnen im Vergleich zu den amerikanischen Kollegen? Die sind halt netter und auch ein bisschen besser ausgebildet. Es arbeiten ja unheimlich viele Engländer heute in Hollywood. Die ganze neue Garde dort kommt fast komplett aus Großbritannien. In England ist es eine andere Art von Mensch, die Schauspieler werden will. In den USA möchten die meisten Filmstar werden und in England träumen sie eher von einem Engagement bei der Royal Shakespeare Company. Das Drehbuch zu The Day After Tomorrow haben Sie damals im Bieterwettstreit an die Studios versteigert. Wie haben Sie für diesen Film die Geldgeber gefunden? Das geht mit so einem Film natürlich nicht. Das muss man mit den Leuten machen, mit denen man schon eine Beziehung aufgebaut hat. Und das war in diesem Fall Sony Pictures. ...für die Sie zuletzt »2012« gedreht haben. War das eine Art Paket-Abkommen nach dem Motto: Ich mache euch noch einen Katastrophenfilm und Ihr finanziert meinen Shakespeare? Das würde ich nie machen. Ist »Anonymous« ein Aufbruch zu neuen Ufern, weg von den Blockbustern hin zum Arthaus-Kino? Die nächsten zwei Filme sind wieder Großproduktionen. Aber dann werde ich sicher wieder einen kleineren Film drehen, weil man dort einfach die ursprünglichere Lust am Filmemachen empfindet. Solche Großproduktionen sind ja immer ein Riesenapparat und im Grunde ist man verantwortlich dafür, wie gut das Geschäftsjahr für ein ganzes Studio läuft. Das sind ja nicht nur zwei, drei Leute im Chefbüro. Wenn man so durch das Studiotor hereinfährt, denkt man schon: "Ach Gott, wenn der Film jetzt nicht funktioniert, verlieren die alle ihren Job". Dieses Verantwortungsgefühl habe ich von meinem Vater. Ich bin oft hinter ihm durch seine Firma gerannt und wusste immer, wie sehr er sich um seine Mitarbeiter sorgte. Und was ist Ihr nächster Film? Der heißt Singularity und spielt 45 Jahre in der Zukunft. Da geht es eben um "Singularity". Ich kann nur allen raten: Googelt diesen Begriff! Das ist das neue Zeitgeistwort. In ein oder zwei Jahren kennt das jeder. Interview: Martin Schwickert
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