FATIH AKIN ÜBER »AUF DER ANDEREN SEITE«

Weltschmerz und Melancholie

Über Deutsch-Türkische Gemeinsamkeiten


Die Kritik zum Film

Auf der anderen Seite" unterscheidet sich sehr deutlich von Ihrem letzten Erfolg "Gegen die Wand".
Je erfolgreicher Gegen die Wand wurde, desto mehr hatte ich den Drang, alles anders zu machen. Aus diesem Bedürfnis heraus sind die komplexe Handlungsstruktur und der visuelle Stil entstanden. Ich habe zum Beispiel bewusst wenig Musik eingesetzt, weil ich mir beweisen wollte, dass ich auch rein visuell arbeiten kann. Ich habe die Kamera weiter nach hinten gepackt, um mehr Distanz zu schaffen. Ich wollte das Spektakuläre so unspektakulär und glaubhaft wie möglich erzählen.
"Auf der anderen Seite" trägt eine sehr tiefe Melancholie in sich. Sind Sie ein melancholischer Mensch?
Ja, ich bin nah am Wasser gebaut. Melancholie ist für mich immer sehr fruchtbar gewesen. Aber ich lache auch sehr gern. Frohsinn und Melancholie halten sich bei mir die Waage.
Ist die Melancholie ein gemeinsamer Berührungspunkt zwischen deutscher und türkischer Kultur?
Deutscher Weltschmerz und türkische Melancholie passen gut zueinander. Aus dieser Symbiose ist auch Gegen die Wand entstanden. Da haben wir den Weltschmerz im Punk gesucht. Aber auch Goethe ist wahnsinnig melancholisch.
Eine Ihrer Figuren ist Literaturprofessor und doziert über Goethe. Sind Sie selbst ein Goethe-Fan?
Immer schon gewesen. Ich bin in den Hamburger Straßengangs aufgewachsen. Da war es natürlich schwer, sich als Goethe-Fan zu outen. Aber mittlerweile kann ich dazu stehen. Für mich ist Goethe ein großer Freidenker.
Wie werden Ihre Freidenker-Filme in der Türkei aufgenommen?
Gegen die Wand ist damals in der Türkei sehr euphorisch aufgenommen worden. Ablehnung gab es eher von Seiten der Türken, die in Deutschland leben. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Reaktionen diesmal insgesamt ein bisschen kühler ausfallen, weil der Film eine kritischere Haltung zur Türkei hat.
Bisher wurde ich in der Türkei vor allem von den Linken geschätzt. Auch das kann sich mit diesem Film ändern, denn Auf der anderen Seite rechnet auch mit gewaltbereiten linken Strukturen ab.
In Italien hat mir die linke Zeitung "Il manifesto" vorgeworfen, dass ich keine Folterszene im Film habe und das Gefängnis wie ein 5-Sterne-Hotel aussieht.
Haben Sie denn in einer echten Haftanstalt gedreht?
Die Szenen beruhen auf sehr gründlichen Recherchen. Wir haben in einem real existierenden Gefängnis bei laufendem Betrieb mit echten Gefangenen gedreht.
Ihr Türkei-Bild in "Auf der anderen Seite" unterscheidet sich sehr deutlich von dem euphorischen Istanbul-Bild, das Sie in Ihrem Musikfilm "Crossing the Bridge" vermittelt haben.
2004, als wir "Crossing the Bridge" gedreht haben, war die Türkei die liberalste Türkei, die es je gegeben hat. Zu liberal für einige Kräfte, und das hat zu Widerständen geführt. In den letzten zwei Jahren gab es fast so etwas wie einen kalten Bürgerkrieg in der Türkei. Auch davon erzählt der Film. Es wird gezeigt, wie die Leute auf der Straße klatschen, wenn kurdische Aktivisten verhaftet werden. In den letzten zwei Jahren hat die Türkei wieder eine sehr destruktive Kurdenpolitik gefahren. Aber man muss die Situation in der Türkei beobachten, wie sie sich jetzt nach den Wahlen und mit Abdullah Gül als Staatspräsident entwickelt.
"Auf der anderen Seite" war in diesem Jahr im Wettbewerb von Cannes. Kamen da auch Angebote aus den USA?
Die kommen schon seit Im Juli. Aber es werden jetzt mehr. Vielleicht mache ich den nächsten Film wirklich dort.
Aber so etwas wie "Bourne Identity 4" würde mich nicht interessieren. Am liebsten möchte ich mich - so wie Kollege Wim Wenders - auf der Basis meines eigenen Drehbuchs mit dem amerikanischen Mythos auseinander setzen. Ich würde sehr gerne einen Film in Amerika machen. Wer das Kino liebt, liebt auch Amerika.

Interview: Martin Schwickert