»ZUG DES LEBENS« Rette sich wer kann
Auf der Flucht vor den Nazis deportiert ein jüdisches dorf sich selbst
Das Interview zum Film
Der Film hat auf dem Weg in die deutschen Kinos bereits eine lange Reise hinter sich gebracht. Schon 1996 hatte der französische Regisseur rumänisch-jüdischer Herkunft das Drehbuch fertiggestellt. Die Geschichte einer Schtetl-Gemeinde, die 1941 vor den Nazis flieht, indem sie sich mit einem gefälschten Deportationszug selbst evakuiert, stieß bei potenziellen Geldgebern auf Skepsis. Eine Komödie über die Shoah - das war damals, lange vor dem Erfolg von Benignis Das Leben ist schön , noch ein Tabu. Zug des Lebens erzählt seine Geschichte aus der Perspektive des Dorfdeppen Schlomo (Lionel Abelanski), der die schreckliche Nachricht vom Vormarsch der Nazis ins verschlafene Schtetl trägt. Der verrückte Schlomo ist es auch, der die rettende Idee hat. Statt auf die Ankunft der Deutschen zu warten, solle man sich doch lieber selbst deportieren zur Grenze nach Russland und weiter nach Palästina. Unter der Leitung des örtlichen Rabbis (Clément Harari) werden Spenden gesammelt, gefälschte Pässe organisiert und baufällige Eisenbahnwaggons in einen schmucken Deportationszug verwandelt. Der Ältestenrat teilt die Gemeinde in Nazis und Deportierte. Ein Vetter aus der Schweiz trainiert die zukünftigen Offiziere in akzentfreiem Deutsch ("Die deutsche Aussprache ist sehr hart, präzise und traurig. Jiddisch ist eine Parodie des Deutschen. Hat jedoch obendrein Humor") und die gefälschten Soldaten stolpern im Stechschritt über den Dorfplatz. Der Exodus des Geisterzuges wird zum Hindernislauf. Während sich das Offizierspersonal mit seiner Führungsrolle überidentifiziert, gründen sich in den Deportiertenwaggons unter der Leitung eines frischbekehrten Kommunisten revolutionäre Zellen, die zum Sturz des 1.Klasse-Regimes aufrufen. Derweil versuchen echte kommunistische Partisanen die Gleise zu sprengen, geben aber schließlich auf, als sie beobachten wie Deportierte und Uniformierte gemeinsam auf der grünen Wiese zum Schabbes-Gebet antreten. Deutsche Truppen stoppen den Zug, und nur mit Mühe gelingt es dem falschen Offizier, den echten SS-Standartenführer von der Geheimmission zu überzeugen. Schließlich trifft der Zug auf einen weiteres getarntes Deportationsunternehmen. Mit geklauten Militärlastern ist eine Gruppe von Zigeunern ebenfalls unterwegs zur Grenze, und gemeinsam nähern sich die Flüchtlinge der rettenden Frontlinie ... Respektlos werden Nazi-Militarismen karikiert, selbstironisch ist der jüdische Humor, endlos das Verwirrspiel um ideologische, religiöse und nationale Identitäten. Slapstick-Elemente, verschmitzter jiddischer Witz und Anatevka-Melancholie greifen bruchlos ineinander. Das ist nicht frei von Klischees. Mihaileanus Blick auf das jüdische Leben vor der Shoah ist bewußt verklärt, sein Film ist auch ein Märchen. Gegen Ende steigert sich Mihaileanus schräge Exodus-Fantasie in immer absurdere Höhen und allen, die dahinter eine Verharmlosung des Holocaust vermuten, hält er eine Schlusswendung entgegen, die den Bezug zum historischen Grauen um so intensiver herstellt. Eine einminütige Einstellung und eine kleine Zoom-Bewegung der Kamera können manchmal eindringlicher sein als 3 Stunden Schindlers Liste .
Martin Schwickert
|