DAS GEHEIME LEBEN DER WORTE

Ohne mich

Identitätsverlust und Verdrängung: Über die Folgen des Balkankrieges

Weißer Reis. Panierte Hühnchenbrust. Ein halber Apfel. Wenn Hanna (Sarah Polley) in der Mittagspause ihre Tupperdose öffnet, ist immer das gleiche Essen in dem dreigeteilten Essnapf. Während der Arbeit in der Fabrik schaltet sie ihr Hörgerät ab. Nicht nur wegen des Lärmes, sondern auch weil sie mit keinem sprechen will. Zu Hause wartet niemand auf sie. Im Kühlschrank sind die Vorräte sauber geordnet: Kochbeutelreis, Schachteln mit Geflügelsteaks, Äpfel. Sonst nichts. Hanna ist eine Frau, die nur in der Routine existieren kann.
Eines Tages wird sie zum Chef bestellt, der sie nötigt, ihren Jahresurlaub zu nehmen. Einige Tage am Meer würden ihr doch bestimmt gut tun, sagt er und schiebt ein paar Reiseprospekte über den Schreibtisch.
Als Hanna dann in einem Restaurant irgendwo an der irischen Küste sitzt, belauscht sie das Telefongespräch ihres Tischnachbarn. Auf einer Bohrinsel, so erfährt sie, ist ein Unfall passiert und man sucht dort dringend eine Krankenschwester, um einen Verletzten zu betreuen. Hanna ist froh, durch diesem Job der drohenden Leere des Urlauberdaseins entrinnen zu können.
Josef (Tim Robbins) liegt mit starken Verbrennungen und zeitweilig erblindet in einem abgedunkelten Raum auf der Bohrinsel. Auf der Plattform ist nur noch eine kleine Besatzung, weil die Bohrarbeiten nach dem Unfall eingestellt wurden. Der melancholische Kapitän hält hier noch die Stellung mit zwei Arbeitern, einem Koch und einem Meeresforscher, der im Auftrag der Firma die Wellen zählt, die täglich an die künstliche Insel schlagen.
Hanna beschränkt ihre Kommunikation auf das Nötigste, während der Patient versucht, das Geheimnis ihrer Schweigsamkeit zu erforschen. Aber erst in der letzten Nacht erzählt Hanna von ihren traumatischen Erfahrungen im Bosnienkrieg, die sie zu einem solch verschlossenen, routinesüchtigen Menschen gemacht haben.
Eigentlich hält man es für unmöglich, dass ein Kinofilm die Erfahrungen der Frauen vermitteln kann, die im ehemaligen Jugoslawien Opfer von systematischen Vergewaltigungen wurden. Die spanische Regisseurin Isabel Coixet, seit Mein Leben ohne mich als bekennende Melancholikerin bekannt, wählt einen Weg, der auf die Verdrängungsarbeit anstatt auf das Gewalterlebnis blickt. Sie macht das Publikum mit den Schutzmechanismen und der Zurückgezogenheit ihrer Figur vertraut und enthüllt erst gegen Ende die traumatischen Ursachen für diese psychische Zerstörung.
Die Bohrinsel, die sich auf offener See tagtäglich gegen die Macht der Wellen stemmt, wird zur Metapher für den Seelenzustand der Figur, aber auch zum Ort der Selbstfindung für Hanna, die von Sarah Polley mit Fragilität und Stärke gespielt wird. Leider konnte Coixet am Ende nicht der Versuchung widerstehen, ihre beiden Figuren zu einem Happy End zusammen zu führen, was dieser intensiven psychologischen Studie am Schluss einen etwas faden Nachgeschmack verleiht.

Martin Schwickert

The Secret Life of Words Sp 2005 R&B: Isabel Coixet K: Jean-Claude Larrieu D: Sarah Polley, Tim Robbins, Javier Cámara