IM TOTEN WINKEL

Tee beim Führer

Hitlers Sekretärin redet sich um Kopf & Kragen

In zehn, höchstens zwanzig Jahren wird es keine Zeitzeugen von Nationalsozialismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg mehr geben. Die Generation derer, die diese Zeit bewusst miterlebt und mitgetragen haben, stirbt aus. Viele, zu viele haben ihr Leben lang geschwiegen und manche lassen erst im hohen Alter die Erinnerungen wieder an sich heran. Mit ein wenig Glück finden sie noch jemand, der ihnen zuhört, der ihr spätes Vermächtnis und ihre Lebensbeichte aufnimmt. Die ehemalige Privatsekretärin Hitlers, Traudl Junge, ist eine von ihnen. Der österreichische Künstler und Filmemacher André Heller hat ihr zugehört. Über zehn Stunden lang. Mit einer sehr geduldigen Kamera, die sich kaum bewegt, nur hinsieht - nüchtern und einfühlsam zugleich. Neunzig Kinominuten lang sieht man nur diese Frau, die sich um Kopf und Kragen und die Seele aus dem Leib redet. Die Sätze kommen so klar formuliert heraus, als hätten sie ein Leben lang im Kopf auf diesen Augenblick gewartet.
Traudl Junge ist eine begabte Erzählerin, die viel Zeit zum Nachdenken hatte und sie im Gegensatz zu den meisten ihrer Generation auch genutzt hat. Im Herbst 1942 fährt die damals 22jährige im Sonderzug zum Führerhauptquartier in der Wolfsschanze. Der Schwager hat ihr den Job als eine der persönlichen Sekretärinnen Hitlers besorgt. Naiv sei sie damals gewesen. Das ist für Traudl Junge keine Entschuldigung, sondern im Gegenteil: ein Selbstvorwurf. Dass sie damals vieles nicht wusste, was sie hätte wissen können, kann sich die 81jährige bis heute nicht verzeihen. Wenn sie vom Sekretärinnen-Alltag in der Wolfsschanze erzählt, dann bekommt man ein Gefühl für die Isolation, die im Zentrum der Macht herrscht. Ein stiller, abgeschiedener Ort, von dem aus Vernichtung und Krieg geplant werden. Einmal nur wird die Stille durch eine Explosion gebrochen: am 20. Juli 1944, als Hitler nur knapp einem Attentat entging.
Hautnah an der Macht und doch in ihrem toten Winkel haben sich Traudl Junge und ihre Kolleginnen befunden. Wie war dieser Hitler? Natürlich steht diese geschichtsvoyeuristische Frage immer im Raum, auch wenn sich André Heller bemüht, die Person der Erzählerin im Vordergrund zu halten. Traudl Junge berichtet von den langweiligen Teestunden beim Führer, der sich in seinen Pausen lieber mit den Sekretärinnen, als mit seinen Offizieren umgab, aber auch von der Ehrfurcht, die die Macht dieses Mannes in ihr hervorgerufen hat. Hitler als Mensch - so wie Junge von ihm erzählt, schwingt gerade in der alltäglichen Banalität die Monstrosität der Figur durch. Besonders eindringlich sind ihre Schilderungen über die letzten Tage im Führerbunker, in denen die NS-Elite zu einem morbiden Gruselkabinett degeneriert, das wenig zur rechten Mythenbildung taugt.
Obwohl Hellers Im toten Winkel um den spektakulären Effekt dieser Erzählungen weiß, findet er immer wieder den Weg zurück zur Ebene der persönlichen Reflexion. Nicht Hitler, sondern die sich selbst analysierende Mitläuferin steht im Zentrum des Films. Zwischen den langen unbewegten Einstellungen auf die Erzählerin, von der die längste 25 Minuten ohne Schnitt dauert, sieht man Traudl Junge vor dem Fernseher, wie sie ihren eigenen Worten lauscht. Der ganze Körper steht unter Spannung. Man merkt, das Reden hat nicht die erhoffte Erlösung gebracht.
Im toten Winkel wurde am 11. Februar 2002 im Rahmen der Berlinale uraufgeführt. Wenige Stunden nach der Vorführung ist Traudl Junge nach einer langen, schweren Krankheit gestorben.

Martin Schwickert