»LITTLE VOICE«

Sing dich frei

Raus aus dem Elend - mit Musik

Mari ist eine Frau, wie man sie selten auf der Leinwand zu sehen bekommt. Eine Rabenmutter mit einem Maschinengewehr-Mundwerk. Ununterbrochen flucht und schnattert sie vor sich hin im Kampf gegen morgendlichen Kater und defekte Hauselektrik. Abends, wenn Mari in die Bars auf Männerfang geht, quetscht sie ihren fülligen Endvierziger-Körper in enge Lycra-Oberteile und geschmacklose Netzstrumpfhosen. Lippenstift und Lidschatten sind immer zu dick aufgetragen, und die Stöckelschuhe scheinen ihr Gewicht kaum tragen zu können.
Brenda Blethyn ( Lügen und Geheimnisse ) spielt dieses ordinäre britische Weibsstück mit sichtbarer Hingabe und ohne diskreditierenden Unterton. Mit ihrem ersten wirbelsturmartigen Auftritt hat Little Voice das Publikum auf seiner Seite. Mari hat eine Tochter und die ist in jeglicher Beziehung das Gegenteil ihrer Mutter. Alle nennen sie LV für "Little Voice", denn sie spricht selten und mit gebrochener, mausartiger Stimme. Seit dem frühen Tod ihres Vaters hat sich LV (Jane Harrocks) in ihr Dachzimmer zurückgezogen und arbeitet sich durch die Plattensammlung des väterlichen Musikalienhandels. Bei dem Gesang von Shirley Bassey, Judy Garland, Marilyn Monroe und Billie Holliday verwandelt sich das krankhaft schüchterne Mädchen in eine stolze Diva, bis in die kleinste Nuance hinein imitiert sie die Stimmen der Musical-Stars - kaum zu glauben, daß Jane Harrocks alle Songs leibhaftig selbst interpretiert.
Als Mari von einem ihrer Streifzüge den abgetakelten Showagenten Ray Say (Michael Caine) mit nach Hause bringt, entdeckt der LVs verborgenes Talent und wittert seine Chance. Es beginnt eine Geschichte, wie man sie oft im britischen Kino gesehen hat: der Traum des kleinen Mannes vom großen Geld setzt ungeahnte Energien frei. Ray verkauft Cabrio, Siegelring, Hab und Gut um aus LV einen gewinnbringenden Star zu machen. Die menschenscheue Sängerin läßt sich schließlich zu einem glamourösen Auftritt in der Musik-Arena des heruntergekommenen Hafenstädtchen überreden, weigert sich danach jedoch strikt, noch einmal die Bühne zu betreten.
Wie in seinem Erstlingsfilm Brassed Off verbindet der britische Regisseur Mark Herman auch in Little Voice Sozialtristesse und Aufbruchseuphorie, wobei die Musik erneut zum Hoffnungsträger wird. Little Voice ist nach einem erfolgreichen Londoner-Westend-Musical von Jim Cartwright entstanden, und Mark Herman hätte gut daran getan, die etwas einfältige Geschichte vom singenden Aschenputtel etwas zu verfeinern. Das Pathos, das in der Weite des Theatersaals versandet, wirkt in filmischer Nahaufnahme manchmal übertrieben. Erst die brillanten schauspielerischen Leistungen von Brenda Blethyn und dem wunderbar schmierigen Michael Caine geben dem Film das notwendige Profil. Hermans Regiestil mag ein wenig zu glatt sein, aber die Gefühlswallungen hat er fest im Griff. Wenn auf der Bühne des Provinztheaters der Applaus für den neugeborenen Star hereinbraust, sind auch die Zuschauer im Kinosaal kaum noch zu halten.

Martin Schwickert