VILLA HENRIETTE

Freundliches Haus
Ein schöner Kinderfilm, ganz ohne Harry Potter-Effekte

Dass Häuser ihr Eigenleben entwickeln können, ist Horrorfilm-Konsumenten wohl bekannt. Endlos ist die Reihe der "Haunted Houses", die den Bewohnern das Leben auf alle erdenklichen Weisen zur Hölle machen. In Christiane Nöstlingers Kinderbuch Villa Henriette wird dieses Motiv umgekehrt. Auch hier mutiert das Haus zu einem Lebewesen mit eigener Seele, das jedoch mit seinen Bewohnern ein freundlich, symbiotisches Verhältnis eingeht. Der österreichische Regisseur Peter Payer (Ravioli) hat Nöstlingers skurrilen Kinder- und Jugendroman sehr liebevoll für die Leinwand adaptiert. Drei Generationen wohnen unter dem Dach des alten Hauses, und jede kann ihre Eigenheiten und Neuröschen im Villenbiotop gut ausleben. Die Großmutter (Cornelia Froboess) investiert ihr Vermögen in die wegweisende Entwicklung eines selbstaufladbaren elektrischen Trittbrettrollers, der Großonkel (Branko Samarowski) verschanzt sich im Gewächshaus, der Vater (Lars Rudolph) meditiert vor der Kaffeemaschine, und die Mutter (Nina Petri) steckt jeden Tag neue Fähnchen in die Weltkarte, weil sie als Flugbegleiterin für den Unterhalt der sonderbaren Familie aufkommt.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der 12jährigen Marie (Hannah Tiefengraber), die mit dem alten Familienwohnsitz in telepathischer Verbindung steht. Das Haus spricht mit ihr (mit der unverkennbaren Stimme von Nina Hagen), lässt im Beleidigungsfall die Rollläden selbstständig herunter oder kündigt aufkommende Gefahren durch unregelmäßige Stromversorgung an. Höchste Gefahr droht dem absonderlichen Familienkosmos, als die Bank die Hypothekenschulden einfordert, deren Existenz die Großmutter bisher erfolgreich verschwiegen hat.
Villa Henriette ist ein Familienfilm, in dem man sich generationsübergreifend amüsieren kann. Ohne den ganzen Eventstress und Hi-Tech-Schnickschnack des family entertainments à la Harry Potter, gelingt es Regisseur Peter Payer und seinem hervorragenden Schauspielerensemble eine eigene, skurrile Welt auf der Leinwand zu installieren, die fest mit der Realität verbunden ist und trotzdem punktuell immer wieder in die kindliche Fantasie entschwebt. Daraus entwickelt Payer einen angenehm warmherzigen erzählerischen Grundton, eine eigenständige filmische Atmosphäre und einen leicht schrägen Humor, der seine österreichische Herkunft nicht verleugnet. Während die US-Kinderfilme fast nur noch die stupiden Affekte der Gameboy-Generation bedienen und auf die Vermarktung der Merchandising-Artikel schielen, ist dies hier ein Film, der das junge Publikum nachhaltig inspiriert, anstatt es mit kurzlebigen Effekten zuzuschütten.

Martin Schwickert
Österreich/Schweiz 2004 R: Peter Payer B: Milan Dor nach dem Roman von Christine Nöstlinger K: Thomas Hardmeier D: Hannah Tiefengraber, Cornelia Froboess, Nina Petri