TSOTSI

Der Mörder und das Baby

Ein Kriminellen-Drama aus Südafrika

Ein junger Mann mit einer Papiereinkaufstasche in der Hand lässt das Auto am Straßenrand hinter sich, geht über die Wiese und verschwindet in der Dunkelheit. Erst am nächsten Morgen, wenn die Polizisten neben dem geklauten Wagen an der selben Stelle stehen, eröffnet die Kamera den Blick auf das, was dahinter liegt: ein riesiges Township am Rande von Johannisburg, ein Meer aus Häusern, Hütten und Verschlägen neben- und übereinander gebaut, wie Bauklötze in einem Kinderzimmer. Wer hier hinein verschwindet, ist nicht mehr auffindbar. Wahrscheinlich würden die beiden südafrikanischen Polizisten den bewaffneten Autodiebstahl zu den Akten legen, wenn sich in der Tragetasche nicht das Baby des überfallenen Ehepaares bewfunden hätte.
Der junge Mann, der das Kind entführt hat, wird Tsotsi genannt. Vor dem Haus einer reichen Familie hat er gelauert, bis die Frau mit dem Auto vorfuhr. Er drohte ihr, schoss ihr in den Bauch und fuhr mit dem Auto auf und davon. Erst später hat er das Baby auf dem Rücksitz entdeckt.
Tsotsi ist ein junger Mann mit einem Blick so kalt und tief, dass man auch ohne Rückblende sein Leben als Straßenjunge nachvollziehen kann. Mit seinen Kumpels raubt er Leute in der U-Bahn aus. Die wenigsten davon überleben. Tsotsi bringt Menschen mit der gleichen Selbstverständlichkeit um wie andere einen Nagel in die Wand hämmern.
Das Baby, das er im Affekt mit zu sich nach Hause genommen hat, bewegt etwas in ihm, ausgelöst durch die Konfrontation mit den menschlichen Grundbedürfnissen, die der Säugling von ihm einfordert. Wie eine heiße Kartoffel fasst er das Baby an und windelt es unbeholfen in Zeitungspapier. Mit vorgehaltener Waffe zwingt er eine Nachbarin, das Kind zu stillen, und während er den Revolver sinken lässt, bekommt man ein Gefühl dafür, dass dies seit vielen Jahren der erste Moment der inneren Ruhe für Tsotsi ist. Durch die Konfrontation mit dem Säugling erinnert sich Tsotsi an seine eigene verdrängte, elternlose Kindheit. Keine riesige Katharsis, aber ein Innehalten in einem gewalttätigen Leben, das sich längst verselbstständigt hat.
Hauptdarsteller Presley Chweneyagae hat ein Gesicht, dass auch ohne Worte eine Lebensgeschichten erzählen kann. Ein Jugendlicher mit den Zügen eines alten Mannes, ein Kinogesicht von magischer Anziehungskraft.
In erster Linie ist Tsotsi ein Film über die Verrohung der südafrikanischen Gesellschaft, ein Erbe des Burenstaates, mit dem das Land immer noch zu kämpfen hat. Hoods Schilderungen vom perspektivlosen Alltag in den Townships sind eindrücklich, ohne dass der Film jemals den Blick des Elendstouristen annimmt.

Martin Schwickert

Südafrika/GB 2005 R: Gavin Hood B: Gavin Hood nach einem Roman von Athol Fugard K: Lance Gewer D: Presley Chweneyagae, Terry Pheto, Kenneth Nkosi