»TREES LOUNGE«

Zu Hause

Steve Buscemis Regie-Debüt

Wir schätzen Steve Buscemi nicht nur als "kinda funny looking guy" aus Fargo oder Desperado oder Reservoir Dogs ; seit seinen Rollen in In The Soup und Living In Oblivion können wir ihn uns auch als echten Regisseur vorstellen. Voilá, richtig gelegen. Buscemi ist der zwielichtige Typ mit der Verlierer-Physiognomie, und auch wenn er inzwischen zur amerikanischen "Independent-Ikone" avanciert ist, wurde er vielleicht eher wegen seiner Fresse als wegen seiner schauspielerischen Fähigkeiten eingesetzt. Er scheint damit zufrieden zu sein, denn obwohl er in Wirklichkeit - nein, nicht besser - normaler aussieht, hat er sich selbst in Trees Lounge eine typische Buscemi-Rolle geschrieben, die allerdings viel mehr in die Tiefe geht. Wie Trees Lounge überhaupt ziemlich in die Tiefe geht.
Valley Stream ist ein Kaff in der Peripherie New Yorks, bevölkert von Leuten, die solche Käffer eben bevölkern: Spießer, Typen, die den Absprung nicht geschafft haben, und ehemalige Städter, die für ihre Kinder eine weniger gefährliche Umgebung suchen. "Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Leben hätte verlaufen können, wenn ich nicht nach Manhattan gezogen und Schauspieler geworden, sondern in Valley Stream geblieben wäre", sagt Buscemi, und sein Held Tommy gehört zur mittleren Kategorie: er ist dort hängengeblieben. Seine große weite Welt besteht in täglichen Besäufnissen in der Dorfkneipe "Trees Lounge" und gelegentlichen Abstechern nach Atlantic City. Und weil Steve als wenig begnadeter Automechaniker nicht besonders viel Geld hat, "leiht" er sich auch mal anderthalb Riesen, quasi ein Investment, das aber schief geht, und als Steves Chef Rob die Sache herausbekommt, ist Steve seinen Job los. Von einer Anzeige hat Rob wahrscheinlich nur abgesehen, weil er Steve seine Freundin ausgespannt hat, und von wem das Kind, das sie erwartet, ist, bleibt bis zum Ende ein Geheimnis.
Alle Figuren in Trees Lounge sind so mit einem feinen Beziehungsgeflecht verbunden, wie es eben ist, wenn man die letzten 35 Jahre an einem eher übersichtlichen Ort verbracht hat. Und in dieser Zeit verändert sich ganz schön viel. Die seinerzeit Angebetete Patty zum Beispiel hat ja damals Steves Kumpel Jerry geheiratet, und jetzt hat sie eine Tochter, Debbie, die in einem Alter ist, in dem sie Steves Hormonhaushalt ganz schön aus dem Gleichgewicht bringt. Ob in dieser Nacht, als Debbie nicht nach Hause gekommen ist, wirklich etwas zwischen ihr und Steve "passiert" ist, spielt gar keine Rolle, wichtig ist allein, daß Jerry seinem alten Kumpel am liebsten die Eier abschneiden würde.
So plätschert das Leben dahin in Valley Stream, und eine richtige Geschichte hat Buscemi auch gar nicht zu erzählen. Er stellt sich eben nur vor, was wäre... und das ist vollkommen genug. Inspiriert von der Arbeit John Cassavetes' ("In ihrem Mittelpunkt steht nicht die Handlung, sondern die Charaktere") zeigt er, was hätte sein können, sehr persönlich (auch sein Vater und sein Bruder haben Rollen), und seine großartige Leistung besteht darin, uns dieses Persönliche sehr universell nahezubringen. Trees Lounge ist nicht der Blick in das Familienalbum eines Fremden, es ist, wie wenn man einem Bekannten zuhört, der Geschichten erzählt, die einen an Zuhause erinnern.

Jens Steinbrenner