»TIETA DO BRASIL«

Die Vertriebene

Sonia Braga verwirrt arme Dörfler

Als Tieta (Sonja Braga) nach über zwanzig Jahren aus der Hauptstadt Sao Paulo in ihr Heimatdorf zurückkehrt, gerät ganz Sant'Ana do Agreste aus dem Häuschen. Da steht sie nun auf dem Dorfplatz an ihren roten Sportwagen gelehnt, die Sonnenbrille in der Hand, und blickt auf ihre Vergangenheit. Auf ihren Vater (Chico Anysio), der es so gern mit Ziegen trieb und sie aus dem Haus warf, als sie ähnliches mit einem Jungen machte. Auf ihre Schwester Perpétua (Marilia Pera), die sie damals beobachtet und veraten hat, und deren Sohn Ricardo (Heitor Martinez Mello), den Tieta, wie die ganze Familie, mit ihren Schecks all die Jahre finanziell unterstützte.
Tieta do Brasil erzählt die Geschichte einer Vertriebenen, die ruhmreich zurückkehrt, um Anerkennung zu finden und vielleicht auch ein wenig Rache zu nehmen. Im fernen Sao Paulo ist Tieta reich geworden, bei ihrer Rückkehr verteilt sie Geld wie andere Bonbons. Alle liegen ihr zu Füßen, was jedoch nicht nur an den materiellen Reizen liegt, sondern auch an Tietas Austrahlung, die mit "sinnlich" nur sehr unzureichend beschrieben ist. Mit ihren ständig wechselnden, großzügig ausgeschnittenen, grellbunten Kleidern bringt sie das Dorfleben in kurzer Zeit aus den Fugen. Die Metropolendame wird zum erotische und materiellen Wuschbild einer Gemeinde, in der um neun die Lichter ausgehen, weil der Ort immer noch nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen ist. Familiäre wie lokalpolitische Turbulenzen potenzieren sich durch Tietas Anwesenheit. Immerhin will ein Chemiekonzern eine Giftfabrik genau an dem Strand errichten, an dem Tieta gerade ihren Neffen verführt, der eigentlich Priester werden soll. Wie ein rauschendes Fest und ohne klar definiertes Ziel wirbelt diese temporeich Verwicklungskomödie über die Leinwand, und am Ende der Geschichte steht statt der Auflösung aller Probleme eher ein riesengroßer Kater.
Regisseur Carlos Diegues verläßt sich in seiner grellen Verfilmung von Jorge Anmados Bestseller "Tieta do Agreste" ganz und gar und zurecht auf seine Hauptdarstellerin Sonja Braga - eine Ikone des brasilianischen Films, die mit Tieta do Brasil nach zwölfjährigen US-Aufenthalt wieder in die heimische Kinoproduktion zurückkehrt. Sonja Braga füllt diesen Film bis in die letzte Pore hinein aus. Ohne sie würden die Bilder in sich zusammenfallen wie ein mißratenes Souflee, ihre Tieta ist eine energisch-kraftvolle Frauenfigur, wie man sie derzeit im Kino nur selten sieht. Dabei führt Tieta do Brasil mit deutlich ironischer Überzeichnung die Macht des Dekoltees wieder auf der Leinwand ein. Unvermeidlich der Vergleich zu Sophia Loren. Üppig auch die Farben: rot-gelbe Hüte mit gigantischen Krempen vor dem Azurblau des Himmels. Häuser, Kostüme und Naturkulisse in klaren kraftvollen Farben - Bilder zum Sattsehen, Kino für den Sommer.

Martin Schwickert