SUZHOU RIVER

Aus dem Herzen

Videobilder aus Shanghai

Mit dem chinesischen Kino verbindet man hauptsächlich die Kinoepen von Chen Kaige ( Lebewohl meine Konkubine ) und die Cinemascope-Poesie eines Zhang Yimou ( Rotes Kornfeld ). Aber auch in China macht eine junge Filmemacher-Generation auf sich aufmerksam, die sich von den klassischen Erzähltraditionen befreit und mit digitaler Technik nach ihren eigenen Regeln dreht. Regisseur Lou Ye hat in Suzhou River die Kamera scheinbar in den Kopf des Erzählers hineingeschraubt. Mit hoher Beweglichkeit folgt sie den Blicken, Gedanken und Erinnerungen eines namenlosen Videofilmers in Shanghai, dessen Identität bis zuletzt im Verborgenen bleibt. Bei einem Auftrag in einem Nachtclub hat er Meimei kennengelernt, die dort zur Unterhaltung der Gäste als Meerjungfrau verkleidet in einem Aquarium schwimmt. Manchmal verschwindet Meimei (Zhou Xun) für ein paar Tage und lässt den Liebhaber ohne Erklärungen allein zurück. Der blickt von seinem Balkon auf die belebte Brücke und erfindet Geschichten zu den Menschen am Fluss.
Eine davon erzählt von dem stoischen Motorradkurier Mardar (Jia Hongsheng), der sich in die Tochter eines reichen Wodkaschmugglers (ebenfalls Zhou Xun) verliebt. Eine große, leuchtende Liebe inmitten der verwüsteten Industrielandschaften Shanghais - zumindest so lange, bis der Erzähler aus dem Off der Geschichte eine tragische Wendung gibt. Mardar entführt seine Geliebte, um deren Vater zu erpressen. Zutiefst enttäuscht stürzt sich die junge Moudan nach ihrer Freilassung in den Fluss, ohne dass ihre Leiche je gefunden wird. Nach Jahren wird Mardar aus dem Gefängnis entlassen und macht sich in Shanghai auf die Suche nach Moudan. In einem Nachtclub findet er Meimei in ihrem Meerjungfrauenkostüm. Die Freundin des Videofilmers sieht der vermissten Geliebten zum Verwechseln ähnlich und langsam beginnt sich die Geschichte gegen ihren Erzähler zu wenden.
Suzhou River ist kein Film für Logikversessene. Wer sich nicht früh genug der Eigendynamik der Erzählung ergibt, bringt sich um das Sehvergnügen. Das Spiegelkabinett der sich ineinander verschiebenden Wirklichkeitsebenen versetzt Suzhou River in einen leicht somnambulen Trancezustand. Film Noir, Nouvelle Vague und Hitchcocks Vertigo winken von der anderen Seite des Flusses, ohne den eigenen Stilwillen zu verwässern. Wie sein Hongkong-Kollege Wong Kar-wei arbeitete auch Lou Ye ohne festes Drehbuch und legte die eigentliche Struktur des Films erst am Schneidetisch fest. Die halbdokumentarischen Aufnahmen vom Alltagsleben am verdreckten Suzhou-River harmonieren auf wundersame Weise mit Meerjungfrauen und anderen Halluzinationen. Ein Liebesfilm aus dem Herzen Shanghais - genial verworren, entschieden romantisch und ganz nah am Lebensrhythmus der Stadt.

Martin Schwickert

Suzhou River China/Deutschland 2000 R&B: Lou Ye K: Wang Yu D: Zhou Xun, Jia Hongsheng, Nai An