»THE LOST SON«

Mit kühlem Blick

Chris Menges' Genre-Krimi über die Kindersex-Mafia

Lombard (Daniel Auteuil) ist einer dieser einsamen, melancholischen Krimihelden, wie man sie aus dem klassischen Film Noir kennt. Die Pariser Polizei hat ihn gefeuert, seitdem verdingt sich der schweigsame Ex-Cop als Privatdetektiv in London: Überwachung von Ehefrauen, kleinere Erpressungsdelikte - das Übliche. Natürlich wartet auf Lombard der Fall, der die Routine über den Haufen werfen wird.
Eine reiche Familie beauftragt ihn mit der Suche nach ihrem vermissten Sohn. Seine Schwester Deborah (Nastassja Kinski) ist sicher, dass das schwarze Schaf der Familie bald wieder auftaucht, und auch Lombard freut sich auf ein leicht verdientes Honorar. Der Fall führt ihn jedoch auf die Spur eines internationalen Kinder-Sex-Rings, und der einfache Job wird zur lebensgefährlichen Reise in die Welt des organisierten Verbrechens. Die moralischen Abgründe des Falls verwandeln den abgeklärten Detektiv in einen engagierten Rächer und wecken dunkle Erinnerungen: Schon einmal griff er als Polizist in Paris zur Selbstjustiz und erschoss den Mörder seiner Frau und seiner Tochter. Lombard folgt der Spur bis nach Mexiko, wo er einen der Kinderhändler bei der Arbeit stellt. Die Hintermänner der Organisation warten jedoch schon in London auf seine Rückkehr.
Joel Schuhmachers spekulativer Film 8mm hat im letzten Kinojahr das Thema Kinderpornografie als sensationslüsterenen Höllentrip inszeniert. Regisseur Chris Menges ( Zwei Welten ) geht mit The Lost Son deutlich sensibler an den Stoff heran und zeigt gerade die alltägliche, zynische Geschäftsmäßigkeit der Kinder-Sex-Mafia. Auf Schockelemente und explizite Missbrauchsszenen wird verzichtet. Lombards Inspizierung des Hotelzimmers, in dem die Freier normalerweise die Kinder treffen, reicht vollkommen aus, um die Dimension des Verbrechens zu verdeutlichen.
Aber The Lost Son ist kein moralischer Thesenfilm, sondern zuallererst ein Genre-Krimi. Dabei versucht Menges die Ästhetik des Film Noir in die Gegenwart zu übersetzen. Daniel Auteuils einsamer Held wirkt wie eine moderne Mischung aus Bogarts Philip Marlowe und Alan Delons "Eiskaltem Engel". Die Millionenmetropole London und die grellen Fassaden im Szene-Quartier Soho sind als Kulisse klug gewählt und werden von Ken Loach-Kameramann Barry Ackroyd mit kühlem Blick ins Bild gesetzt.
Der unbedingte Wille zum Genrekino will jedoch mit der moralischen Wucht des Stoffes insgesamt nicht so recht harmonieren. Dass Lombard als Racheengel den Kinder-Sex-Ring im Alleingang aushebt, entspricht zwar den Krimigepflogenheiten, wirkt aber in diesem Fall völlig unglaubwürdig. Für ein realistischeres Ende hätte man sich hier auch mit weniger Heldenmut zufrieden gegeben.

Martin Schwickert