»SLEEPERS«

Unschuldig schuldig

Barry Levinsons »Sleepers« liefert drei Genres zum Preis von einer Kinokarte.

Erster Teil: Heimatfilm. In den 60er Jahren war das irische Viertel Hell's Kitchen auf der Westside von Manhattan eine der berüchtigsten Ecken New Yorks. Eine kriminelle Hochburg, in der das geschriebene Gesetz nichts und das Gesetz der Straße alles galt. Mafiadurchsetzte Nachbarschaftsstrukturen sorgen trotz aller manifesten Gewalt auf der Straße für eine gewisse Sicherheit im Viertel. Hell's Kitchen in den frühen 60er Jahren ist die Heimat von Shakes, Michael, Tommy und John, eine unzertrennliche Viererbande, die hier ihre Version einer unbeschwerten Jugend verlebt. Zu Hause schlagen die Väter die Mütter, die Stiefväter ihre Söhne, und so lebt das Quartett vornehmlich auf der Straße. Im Sommer wird der ölige Hudson River zum Swimming Pool. Auf den heißen Teerdächern der Blocks aalen sich die Jungs in der Sonne, lesen in geklauten Comics oder im "Graf von Monte Christo". Ab und zu machen sie ein paar Botengänge für King Benny (Vittorio Gassmann), die mafiose Eminenz des Viertels, oder meßdienern brav in Pater Bobbys Kirche. Robert De Niro mimt den kettenrauchenden, basketballspielenden, allerweltlichsten Pfaffen der Filmgeschichte.
New York ist eine reichlich abgenutzte Filmkulisse, aber Kameramann Michael Ballhaus zeigt den Moloch aus einer neuen Perspektive. Die bröckelnden Häuserblocks werden in heimelige Brauntöne getaucht, das Licht des Sommers macht aus der anonymen Großstadt einen warmen, vertrauten Ort. Wenn die Kamera in Parallelfahrt senkrecht an einer Häuserfassade entlangkrahnt und den Blick über die Dächer der Stadt freigibt, dann haben diese Einstellungen sicherlich ein Vermögen gekostet. Aber sie sind es auch wert.
Zweiter Teil: Knastfilm. Die glückliche Jugend findet ein abruptes Ende, als die vier aus einer Laune heraus einen Hot Dog-Wagen kidnappen, der dabei einen unbeteiligten Passanten lebensgefährlich verletzt. Das Gericht verdonnert die jugendlichen Straftäter zu einer einjährigen Haftstrafe. Der Film wechselt die Farben. Grau- und Blautöne, kaltes Winterlicht. Das "Wilkinson Home for Boys" sieht von außen aus wie ein Internat für Söhne reicher Eltern. Innen erwartet die Jungs allerdings die Hölle des Strafsystems. Die Tyrannei der Wärter kennt keine Grenzen. Ein wenig zu schonungslos zeigt die Kamera die Brutalitäten: Schläge ohne Ende, Essen vom Boden, Isolationshaft und immer wieder nächtliche Vergewaltigungen. Shakes, John, Michael und Tommy sind nach ihrer Entlassung für ihr Leben gezeichnet und graben die Erinnerung an Wilkinson tief in sich ein.
Dritter Teil: Gerichtsfilm. Zehn Jahre später. Die Wege haben sich getrennt. Shakes (Jason Patrick) arbeitet als Journalist, Michael (Brad Pitt) bei der Staatsanwaltschaft, Tommy und John als professionelle Killer. Als die beiden Nokes (Kevin Bacon), den sadistischsten Wärter, in einem Restaurant wiederentdecken, zögern sie keinen Moment und schießen ihn nieder. Bald schon werden sie verhaftet, und es beginnt eine der spannendsten Gerichtsfilmvariationen der letzten Jahre. Michael übernimmt den Fall als Ankläger, um ihn in einem manipulierten Gerichtsverfahren zu verlieren. Jahrelang hat er auf diesen Punkt hingearbeitet, um sich auf der juristischen Ebene für die erlittenen Qualen im Knast zu rächen. Auf streng klandistinen Wegen werden Dokumente hin und her geschoben, Zeugen präpariert, der Verteidiger (großartig abgetakelt: Dustin Hoffman) mit Informationen versorgt.
Natürlich geht es auch in Sleepers wieder um den Unterschied von Recht und Gerechtigkeit und um Fragen der Moral. Schließlich sollen hier zwei kaltblütige Mörder freigesprochen werden. Aber anders als in Grishams "Die Jury" kommt es nicht zur Versöhnung zwischen Justitia und populistischem Gerechtigkeitsempfinden. Das Justizsystem wird nicht geläutert, sondern von denen, die auf der Verliererspur des american-way-of-life gelandet sind, ausgetrickst. Sleepers ist ein modernes Robin-Hood-Märchen und durch die wendungsreiche Story, die hochkarätige Besetzung und die brillante Kameraarbeit ein seltener Glücksfall: großes Kino für ein großes Publikum ohne handelsübliche Verblödungsstrategien.

Martin Schwickert