SIN NOMBRE

Auf dem Dach

Ein Immigranten-Western mit falscher Himmelsrichtung

Der Zug rattert langsam durch das mexikanische Hinterland. Auf den Dächern der Güterwaggons sitzen hunderte von Emigranten aus allen Teilen Lateinamerikas. Zerlumpte Plantagenarbeiter am Rande starren zu ihnen hoch. Und dann fliegt den Reisenden etwas um die Ohren. Einige ducken sich, weil sie denken, dass sie mit Steinen beworfen werden. Aber es sind frisch gepflückte Orangen, und mit ihnen landet auf dem Waggondach auch die Sehnsucht der Umherstehenden nach einem weniger armseligen Leben.

Die Emigranten, die sich auf den langen Weg ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten machen, sind solch solidarische Gesten nicht gewohnt. Im Gegenteil: Von allen Seiten, so scheint es, werden den Reisenden auf dem Weg zur US-Grenze Steine in den Weg gelegt. Gangs überfallen den Zug und rauben ihnen die letzten Ersparnisse. An den Stadtgrenzen warten die Ordnungshüter und machen Jagd auf die illegalen Passagiere.

Zwei Lebensläufe führt Cary Joji Fukunaga in seinem vielversprechenden Langfilmdebüt Sin Nombre auf dem Dach des Güterzuges zusammen. Casper sollte als Mitglied der berüchtigten Gang "Mara Salvatrucha" eigentlich zusammen mit seinen Kumpanen die Emigranten ausrauben. Aber nachdem der lokale Chef der Gang seine Freundin vergewaltigt und umgebracht hat, nutzt Casper die Gelegenheit, mit dem Mörder abzurechnen.

Sayra, die sich mit ihrem Onkel auf den langen Weg von Honduras zur Verwandtschaft nach New Jersey gemacht hat, sieht in Casper ihren persönlichen Schutzengel. Aber Caspar weiß, dass er mit der Tat sein Todesurteil gefällt hat. Die gut organisierte Gang wird ihn finden, egal wo er sich zu verstecken versucht. Dass das Mädchen in ihm einen guten Menschen erkennt, dem sie sich blind anvertraut, irritiert den jungen Gangster, dessen Leben bisher von Mord und Verbrechen bestimmt war. Aber weil er nichts zu verlieren hat, nimmt er widerstrebend die Verantwortung für das Mädchen an, während seine Verfolger schon die Spur aufgenommen haben.

Obwohl Regisseur Cary Joji Fukunaga in den USA lebt, stellt er sich in die Tradition des jungen südamerikanischen Kinos, das sich mit Filmen wie Amores Perros von Gonalez Iñarritu oder Meirelles City of God in den letzten Jahren mit cineastischer Wucht den sozialen Härten und kriminellen Strukturen in Mexiko oder Brasilien stellte. Aber Fukunaga setzt den exzessiven Gewaltgemälden traditionelle Motive des Westerns und des Roadmovies entgegen. Mit der langsamen Fahrt des Zuges durch die oftmals verwunschenen Landschaften Mexikos kommt der Film immer wieder zur Ruhe und konzentriert sich auf die aufkeimende Zuneigung zwischen den beiden Hauptfiguren und den sozialen Mikrokosmos, der sich auf dem Dach der Waggons zwischen den Emigranten bildet. Würde man die Eisenbahnwaggons durch Planwagen ersetzen und die Himmelsrichtung der Reise ändern, fände man sich in einer klassischen Western-Story wieder.

Fukunaga beherrscht die Balance zwischen Vertrautem und Verstörendem geradezu perfekt. Szenen drastischer Gewalt stehen hier Passagen gegenüber, in denen die Kamera mit vollkommener Konzentration in den Gesichtern der Figuren liest.

Martin Schwickert

Mexiko/USA R&B: Cary Joji Fukunaga K:Adriano Goldman D: Paulina Gaitan, Edgar Flores, Kristyan Ferrer