»MEIN LEBEN IN ROSAROT«

Gender-Crossing

Der Junge, der ein Mädchen sein wollte

Die Welt ist in Ordnung in der gut bürgerlichen Pariser Vorstadt. Die Einfamilienhäuser mit den großzügigen Vorgärten und pastellfarbenen Garagentoren sind hübsch herausgeputzt, und auch die Fabres, die hier gerade hergezogen sind, sind eine Vorzeigefamilie par excellence. In Alain Berliners Debütfilm Mein Leben in Rosarot schreit uns die Idylle in bunten Farben von der Leinwand entgegen.
Bunt ist auch das Prinzessinnenkleid, das Ludovic, der jüngste Sohn der Familie, zur Einweihungsfeier trägt. Die neuen Nachbarn sind ein wenig pikiert von diesem Auftritt, die Eltern nehmen es zunächst verwirrt als Scherz auf. Aber der 7jährige meint es ernst: er lebt in der unbeirrbaren Überzeugung, ein Mädchen zu sein, spielt gerne mit Barbie-Puppen, trägt die Shorts in demonstrativer Selbstverständlichkeit mit dem Hosenschlitz nach hinten, und Fußballspielen ist ihm natürlich ein Graus. Nur kurze Zeit können die Eltern dies als Kinderspinnerei abtun, dann hebt das Gender-Crossing des hübschen Jungen den Familienfrieden, ja sogar den des ganzen Stadtteils aus den Angeln. Als Ludovic beschließt Jerome, den Sohn von Vatis Chef zu heiraten, hat's mit dem Spaß ein Ende. Die Barbies kommen in den Keller, die Haare werden in einer der dramatischsten Szenen des Films kurz geschnitten, Ludovic muß sich fortan auf dem Fußballplatz abquälen und für die Remaskulinisierung des Juniors wird eine Psychologin engagiert. Die Nachbarn tuscheln, sammeln später sogar Unterschriften. Ludovic fliegt von der Schule, der Vater (Jean Philippe Ecoffey) verliert seinen Job, und schließlich geht sogar der Mutter (Michéle Laroque) die Gelassenheit abhanden.
Was als leichte Komödie beginnt, kippt irgendwann ins handfeste Familiendrama, und es gibt wahrscheinlich wenige Filme, die einem solchen Genrewandel standhalten. Mein Leben in Rosarot gehört dazu. Der belgische Regisseur Alain Berliner hält sich nicht lange mit realistischen Milieuschilderungen auf, sondern übertreibt und karikiert an den richtigen Stellen, und wenn die Wirklichkeit nicht mehr genug hergibt, folgt die Kamera Ludovic bei seinen Fluchten in eine rosarote Traumwelt, in der er endlich sein kann, wie sie will.
Würde der Film aus einem südamerikanischen Land kommen, würde man so etwas mit dem schönen Begriff "magischer Realismus" umschreiben, wie man das in Belgien nennt, entzieht sich unserer Kenntnis. Auf jeden Fall erinnert Alan Berliners Film in seiner Machart deutlich an die ebenfalls belgische Produktion Toto - der Held . Mein Leben in Rosarot schildert die Geschichte konsequent aus der Perspektive des Kindes. Nie hegt man einen Zweifel daran, daß Ludovic mit der Wahl seiner Geschlechteridentität im Recht ist und Georges du Fresne in der Rolle des Jungen wider Willen ist auf betörende Weise überzeugend - ein Gesicht, das die Leichtigkeit und den Ernst dieses Film gleichermaßen einfängt.

Martin Schwickert