DIE ANONYMEN ROMANTIKER Hemdwechsel Hier haben alle Angst vor Gefühl und wollen lieber Schokolade Ich mag Frauen, aber sie machen mir Angst" sagt Jean-René zu seinem Therapeuten, der dem angespannten Schokoladenfabrikanten erst einmal verordnet, die neue Mitarbeiterin zum Essen einzuladen. Zum Rendezvous rückt Jean-René mit einem Koffer voller Hemden an, den er auf der Toilette deponiert. Kaum sitzt er mit Angélique am Tisch und hat die ersten gequälten Sätze mit ihr gewechselt, springt er auch schon wieder auf und rennt auf'sKlo, umseindurchgeschwitztes Hemd zu wechseln. Das geht so ein paar Mal zwischen Tisch und Toilette hin und her, bis Jean-René die Flucht ergreift und Angélique, noch bevor das Essen serviert wird, allein im Restaurant zurückbleibt. Jean-René ist nicht nur schüchtern. Er gehört zur Gruppe jener hypersensiblen Menschen, auf die Geräusche, Gerüche, Eindrücke und Gefühle in zigfacher Potenz einstürmen. Sich zu verlieben, ist für solche Menschen ein Super-GAU, und genau davon erzählt Jean-Pierre Améris' amouröses Kinomärchen Die anonymen Romantiker. Was Jean-René nicht ahnt, aber bald herausfindet, ist, dass Angélique, die seit kurzem in seiner Schokoladenmanufaktur arbeitet, an den gleichen Symptomen leidet. In einer Selbsthilfegruppe sucht sie nach Wegen aus der Überempfindsamkeit und ihrem zurückgezogenen Leben. Jahrelang hat die gelernte Chocolatière ihre süße Kunst im stillen Kämmerlein ausgeübt. Ihre Kreationen ließ sie im Laden von Monsieur Mercier verkaufen, der den Kunden erzählte, ein Eremit in dem Bergen habe die Köstlichkeiten produziert. Als der alte Meister stirbt, muss Angélique heraus aus ihrem Schneckenhaus und bewirbt sich in Jean-Renés kriselnder Schokoladenmanufaktur. Irrtümlicherweise wird die scheue Neue ausgerechnet als Vertreterin eingestellt, aber das ist bei Weitem nicht das einzige Missverständnis, dass die beiden Überempfindlichen auf ihrem Weg zum Liebesglück klären müssen. Jean-Pierre Améris hat seine romantische Komödie als Kinomärchen in warmen Farbtönen und mit ebenso sanftem, wie schlichtem Humor inszeniert, der eher zum Schmunzeln als zum Lachen verleitet. In seinem visuellen, leicht surreal verklärten Stil lehnt sich Améris sichtbar an Jeunets Die fabelhafte Welt der Amélie an, ohne dessen anarchische Zügellosigkeit erreichen zu wollen. Die anonymen Romantiker ist ein Film, der es ein bisschen zu gut mit seinen Figuren und seinem Publikum meint und eine große Freundlichkeit ausstrahlt. "Viele glauben Schokolade sei eine Süßigkeit" sagt Jean-René einmal, und Angélique verweist auf das ausgewogene Verhältnis zwischen Süße und Bitterstoffen, die eine gute Schokolade ausmachen. Das mag auch für Komödien gelten, wobei es dieser hier etwas an Bitterstoffen mangelt. Martin Schwickert Les Emotifs anonymes F 2010 R: Jean-Pierre Améris B: Jean-Pierre Améris, Philippe Blasband K: Gérard Simon D: Benoît Poelvoorde, Isabelle Carré
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