»SIN QUERER - ZEIT DER FLAMINGOS«

Dorfintrigen

Geschichten vom Ende der Welt

In San Lorenzo ist der Hund begraben. Durch den tristen Ort aus Stein- und Wellblechhäusern in der Einsamkeit Patagoniens weht ein unnachgiebiger Wind. Der Staub wirbelt durch die Straßen. Einmal im Jahr machen die Flamingos hier Station, pausieren an der Lagune, die mitten in der Wüste wie ein Fremdkörper wirkt.
Der argentinische Regisseur Ciro Cappellari, der vornehmlich in Deutschland lebt und arbeitet, hat hier seine Kindheit verbracht, und vielleicht ist es die genaue Kenntnis des Ortes und die Distanz des Zurückkehrenden, die diesen Film vor romatischen Verklärungen schützt.
Als der Ingenieur Mario (Daniel Kuznieka) zur besten High-Noon-Zeit in San Lorenzo ankommt, wird er durch ein Fernglas beobachtet. Die Kamera schwenkt von Marios Geländewagen hin zur Dorfkirche, vor der eine Indio-Frau in praller Mittagssonne stumm wartet, und weiter zum örtlichen Bekleidungsgeschäft, das um diese Zeit gerade geschlossen hat. Auch von hier aus wird Mario hinter den Gardinen beäugt, von Gloria (Angela Molina), der Ladenbesitzerin, und dem Bürgermeister Maldonado (Norman Briski), der gerade ehebrechenderweise in Socken und Unterhosen aus Glorias Bett gestiegen ist. Mit drei kurzen Schwenks hat die Kamera die Eckpunkte der Handlung markiert.
Der Fremde wird freundlich empfangen. Mario soll eine Trasse vermessen, auf der ein großes Passagierschiff über Land durch San Lorenzo zu einem weiter entfernten Binnensee transportiert werden soll. Ein absurdes Projekt und gleichzeitig die einzige Hoffnung für ein Kaff wie San Lorenzo, auf einer breiten asphaltierten Straße könnte der Fortschritt endlich auch in diesen Ort rollen. In der Schule basteln die Kinder ein großes Schiffsmodell aus Pappmachee, ein Fest mit einer unglaublichen Tanzkapelle und noch unglaublicheren Reden wird organisiert. Hinter dem harmlosen provinzellem Freudengetummel verbergen sich kriminelle Machenschaften, in die die ganze Riege der Dorfhonoratioren verwickelt zu sein scheint. Von großen Geschäften mit einer stillgelegten Miene ist da die Rede und Amando (Patricio Contreras), ein skrupelloser Unsympath mit Mafiakontakten, hat übergroßes Interesse am Straßenbau. Auch das Verschwinden eines alten Indianers, der von seiner Tochter Rosa (Luisa Calcumil) verzweifelt gesucht wird, ist kein Zufall. Ihm gehörte ein Stück Land, das durch die Vermessung aufgewertet werden sollte. Mario stößt an die Grenzen dörflicher Freundlichkeit, als er zusammen mit der schönen Gloria (Angela Molina - ihr Gesicht gewinnt mit jeder Altersfalte hinzu) dem Komplott auf die Spur kommt.
Sin Querer erzählt nicht nur diese eine Geschichte, sondern fächert hinter der bröckelnden Dorfkulisse eine ganze Reihe von tragischer Biographien auf. Regisseur Ciro Capellari beschränkt sich auf eine ruhige, lakonische Erzählweise. In kurzen abgespeckten Szenen, einem schnörkellosen Rhythmus und in wunderschönen spröden Bildern (Kamera: Jürgen Jürges) blickt er auf Sein und Schein in der patagonischen Provinz und verbreitet eine angenehm tief-melancholische Grundstimmung.

Martin Schwickert