»DER POLYGRAPH«

Eitel und sinntief

Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit

Robert Lepage macht intellektuelles Kino. Er erzählt seine Geschichten gleichzeitig auf mehreren Ebenen, über seinen Figuren schwebt ein sorgfältig konstruierter Überbau, und die Bilder bersten vor ästhetischen Ansprüchen. In seinem Spielfilmdebüt Confessional hat der kanadische Regisseur gezeigt, daß so etwas nicht langweilig sein muß. In seinem zweiten Film Der Polygraph tritt er entschlossen den Gegenbeweis an.
Es beginnt mit einem Lügendetektortest. Der Körper wird an verscheidenen Stellen verkabelt, um Herzfrequenz, Atmung und Schweißaustritt genau messen zu können. Fragen können nur mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden. Der Politologie-Doktorant und Gelegenheitskellner Francois (Patrick Goyette) wird von der Polizei verdächtigt, seine Geliebte ermordet zu haben. Um seine Unschuld zu beweisen, unterzieht er sich dem Polygraphen-Test. Das Ergebnis fällt jedoch nicht eindeutig aus, und auch Francois zweifelt an sich. Sicher, er hat Marie-Claire nicht umgebracht, aber er hätte es tun können. Die objektive Technik scheitert am subjektiven Dilemma. Das riecht nach Bedeutung. Und schon leuchten im Untertitel unsichtbar die ersten existentiellen philosphischen Grundfragen auf: Gibt es überhaupt e i n e Wahrheit oder nicht vielleicht ein, zwei, viele Wahrheiten ?
Auf jeden Fall gibt es in Lepages Film viele Erzählstränge, die so eifrig und so sinnlos nach dem Sinn suchen. Judith (Josée Deschênes) war dabei, als ihre Freundin Marie-Claire getötet wurde, und im Zuge der polizeilichen Ermittlungen hat sie Freunde, auch Francois, beschuldigt und verloren. Auch sie kämpft mit der Wahrheitsfindung und will über den Fall einen Film drehen. Ein Hauch von modischer Selbstreflexivität weht uns mit dieser Film-im-Film-Geschichte von der Leinwand entgegen. In Judiths Film soll Lucie (Marie Brassard, auch Co-Autorin) das Mordopfer spielen. Lucie ist Francois Nachbarin und weiß nicht, daß er etwas mit der Sache zu tun hat, und außerdem prallt sie in einer U-Bahn-Station mit dem angesehenen Pathologen Christof (Peter Stormare - der wortkarge Leichenhexler aus "Fargo") zusammen. Man freundet sich miteinander an und landet noch am gleichen Tag im gleichen Bett. Christof ist vor noch nicht allzu langer Zeit aus der DDR geflohen und auch hier schließt sich ein Kreis. Der Polygraph ist im Jahr 1989 angesiedelt, dem Jahr, in dem die Berliner Mauer zusammenbrach, damit endlich zusammenwachsen konnte, was schon lange nicht mehr zusammengehörte. Der depressiver Politologe Francois verfolgt das Geschehen am Bildschirm genauso gespannt wie Christof. "Geschichte wird mit Blut geschrieben", hatte Francois in russischen Lettern und roter Farbe an die Wand geschrieben. Nun versucht er es mit Seife und Schrubber wieder wegzuwischen. Sicherlich soll das Bild vom Mauerfall eine besonders raffinierte Chiffre für irgendetwas besonders wichtiges sein, aber die Banalität dieses hirnakrobatischen Vergleiches tritt hierzulande allzu offensichtlich hervor.
Ohnehin hat man mittlerweile die Lust am Entschlüsseln verloren, denn das intelektuelle Vergnügen, das Lepage anfangs zu versprechen scheint, mag sich einfach nicht einstellen. Ausgangspunkt für Der Polygraph soll ein traumatisches Erlebnis des Regisseurs gewesen sein. Wie seine Hauptfigur, so wurde auch Robert Lepage 1980 der Vergewaltigung und des Mordes an einer Freundin verdächtigt. Umso mehr wundert man sich, wie gleichgültig der Film seiner eigenen Story gegenübersteht, und wie eitel sich der Filmemacher hinter der Kamera als postmoderner Amateurphilosoph in Szene setzt.

Martin Schwickert