»POLA X« Liebe und Elend
Leo Carax ist wieder bedeutsam Trotz eines bescheidenen Gesamtwerkes wurde Leo Carax schon zu den großen Regisseuren gezählt. Mit Die Liebenden von Pont-Neuf gelangte er 1991 zu Ruhm. Seitdem ist es still geworden um den Meister. Acht Jahre dauerte es, bis Carax sich mit Pola X zurückmeldete, und peinlicher hätte sein Comeback wohl kaum ausfallen können. Guillaume Depardieu braust als junger Pierre auf dem Motorrad durch malerische Sommerlandschaften, eilt zu seiner Geliebten und wieder zurück ins heimische Chateau. Auf Rattan-Mobliar lümmelt sich dort Catherine Deneuve, und verständnisvoll nimmt man zur Kenntnis, dass Pierre zur gutaussehenden Mutter in einem libidinösen Verhältnis steht. Pierre ist ein erfolgreicher Autor von Bestseller-Romanen, bald wird er seine hübsche Verlobte Lucie (Delphine Chuillot) heiraten. Wenn zu Beginn eines Filmes Brautkleider anprobiert werden, ist das selten ein gutes Omen. Und so trifft Pierre eine verwahrloste Gestalt, von der er sich magisch angezogen fühlt. Isabelle (Katerina Golubeva) kommt aus Jugoslawien und behauptet, seine Halbschwester zu sein. Pierre glaubt Isabelle und beginnt mit ihr ein neues Leben. Hinweg mit Karriere, Luxus und all den Lügen! Man haust in schmuddeligen Pariser Hotels, schließlich bei einer dubiosen Sekte in verlassenen Industrieanlagen. Pierre glaubt, sein wahres Selbst gefunden zu haben. Er tippt jetzt nicht mehr in den PC, sondern schreibt geniegerecht mit Bleistift und Papier in unbeheizten Räumen. Weil Lucie es ohne ihren Pierre nicht aushält, zieht auch sie in die Schmuddel-WG, gemeinsam behüten die Frauen das wahnhaft scheiternde Schriftstellergenie. Nicht nur die dunkle Farbgebung der Bilder kündigt an, dass das alles kein gutes Ende nehmen kann. Leos Carax hat mit Pola X den Roman Pierre oder Im Kampf mit der Sphinx (1851) des Moby Dick -Autors Herman Melville filmisch in die Gegenwart übertragen. Vielleicht hat sich der Regisseur zu sehr mit der Hauptfigur identifiziert, denn Carax scheitert beim Streben nach künstlerischer Größe auf ähnlich fatale Weise wie sein Pierre. Ebenso verzweifelt wie vergeblich versucht Carax, mit düsterer Melodramatik und wuchtigen Bildern existenziell Bedeutsames zu produzieren. Mit geradezu schmerzend peinlichen Dialogen überträgt sich das Leid der Figuren schnell auch auf das Publikum. Wenn Isabelle wieder und wieder ihr enervierend hingehauchtes "Pierre, ach Pierre" anstimmt, beginnt man sich unwillkürlich mit der Lage der Notausgänge vertraut zu machen. Wie in Pont-Neuf sucht Carax die Antworten auf existenzielle Fragen in der stilisierten Armut. Ende der Achtziger waren solche Verelendungstheorien in Künstlerkreisen verbreitet. Heute wirken sie etwas überholt und auch ein wenig geschmacklos.
Martin Schwickert
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