»DAS LEBEN, EIN PFEIFEN«

Traumland

Lieber verrückt in Kuba als normal in Hollywood

Die Altenpflegerin Julia wird von unerklärlichen Gähnanfällen geplagt, und wenn sie das Wort "Sex" hört, sinkt sie sofort ohnmächtig zusammen. Ein Besuch beim Psychiater beweist: sie ist mit diesem Problem nicht allein. Reihenweise fallen die Passanten im kubanischen Havanna in Ohnmacht, wenn gewisse Reizwörter wie "Freiheit", "Opportunismus" oder "Doppelmoral" laut ausgesprochen werden. Die schöne Ballettänzerin Mariana hingegen hat eine ausgeprägte Schwäche für gut gebaute Männer. Wenn sie durch die Straßen der Hauptstadt streift, zieht sie sie buchstäblich mit ihren Blicken aus. Um die Rolle der "Giselle" zu bekommen, legt Mariana jedoch vor dem Altar ein Enthaltungsgelübde ab und trifft prompt auf die Liebe ihres Lebens. Elpidio ist ein arbeitsloser Taugenichts, und seine Mutter mit dem bezeichnenden Namen Cuba hat den missratenen Sohn verstoßen. Seitdem wartet der rastalockige Mulatte auf ein versöhnliches Zeichen aus dem Himmel. Statt dessen landet eine ausländische Umweltschützerin mit einem ein Heißluftballon vor seinen Füßen. Alle drei werden von einer Märchenfee durch ihr Schicksal geleitet und finden sich schließlich zur gleichen Zeit am "Platz der Revolution" zusammen, um auf das Leben und seine Konventionen zu pfeifen und ihr Glück endlich selbst in die Hand zu nehmen.
Aus der Fülle der Ideen hätte man andererorts wahrscheinlich zehn verschiedene Kinoprojekte herausgestanzt. Mit leichter Hand verbindet Pérez die Lebenslinien seiner glückssuchenden Außenseiter. Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit sind dabei kaum noch auszumachen. Herzzerreißende Liebesszenen, kubanischer Alltagstrott, politische Satire, wunderlicher Zauberkram und karibisch gelassene Lebensweisheit zerlaufen zu einem ganz und gar nicht abgehobenen Gesamtkunstwerk. Synthi-Klänge, Konga-Rhythmen und alte Son-Klassiker von Beny Moré unterstreichen den farbenprächtigen Sog der Bilder und die melancholische Grundstimmung des Films. Kuba, das ist nicht nur Fidel Castro und "Buena Vista Social Club", sondern auch zur Zeit eines der interessantesten - und ärmsten - Filmländer der Welt. Von den Dollars, die in Hollywood für eine zweiminütige, durchschnittlich verschwenderische Autoverfolgungsjagd ausgegeben werden, könnte man in Kuba mindestens ein bis zwei abendfüllende Spielfilme drehen, die wiederum um ein vielfaches gehaltvoller wären, als der gesamte Jahresoutput eines US-Majors. Also: Enteignet Hollywood und schickt die Knete nach Kuba!

Martin Schwickert