»DER ENGLISCHE PATIENT«

Leid und Mitleid

Ein großes Melodram im Wüstenwind

Norditalien kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges: In ein Kriegslazarett der Alliierten wird ein ungewöhnlicher Patient eingeliefert. Nach einem Flugzeugabsturz vor einigen Jahren sind Gesicht und Haut durch Verbrennungen völlig entstellt, die Lungen nur noch faustgroß. An seinen Namen kann sich der Mann nicht mehr erinnern. Man nennt ihn den "Englischen Patienten". Soviel Gesichts- und Namenlosigkeit auf einmal versprechen Geheimnisse größeren Ausmaßes. Die kanadische Krankenschwester Hana (Juliette Binoche) beschließt, in einem verlassenen Kloster mit ihrem Patienten das Ende des Krieges abzuwarten. Die provisorische Heimat wird für den Sterbenskranken der Ort, an dem die Erinnerung zurückkehrt.
In Rückblenden konstituiert sich in Anthony Minghellas Film ein Melodram klassischer Güte. Hierzu gehört zuallererst natürlich eine Liebe, eine lange Zeit uneingestandene, dann aber umso heftigere und trotzdem immer noch verbotene Liebe. Dazu gehören auch Zeitwirren, die die Liebenden, wenn's am schönsten ist, auseinanderreißen und gesellschaftliche Normen, gegen die es, ach ja, so lustvoll zu verstoßen gilt. Dazu gehört auch eine Landschaft, vor der sich die beiden kennenlernen, eine Naturgewalt, die sie endlich einander in die Arme treibt. Hier ist es die Wüste, in der sich die Gemüter erhitzen, ein Sandsturm, der die Hemmungen fallen läßt.
Graf Lazlo Almasy - so heißt der englische Patient mit bürgerlichem Namen - war vor Beginn des Krieges Leiter einer Internationalen Wüstenforschungsgruppe. Wenn er die Wüste in seinen wissenschaftlichen Aufsätzen beschreibt, kommt er ohne Adjektive aus, weil "die Dinge nur sind, was sie sind". Ralph Fiennes ("Schindlers Liste", "Strange Days") spielt diesen introvertierten, etwas eigentümlichen jungen Mann - eine Figur, die aus einem Camus-Roman entsprungen sein könnte. Ein spröder Charakter wie Almasy braucht lange, bis er sich die übergebührliche Zuneigung zur verheirateten Katherine Clifton (Kristin Scott Thomas) eingesteht. Die Annäherung verläuft entlang einer Reihe gegenseitiger gezielter Mißachtungen und Verletzungen. Als die beiden endlich übereinander herfallen, ist das Glück nur von kurzer Dauer, denn - wir erwähnten es bereits - die gesellschaftlichen Zwänge (die Frau ist schon verheiratet) und außerdem die politischen Wirren am Vorabend zum Zweiten Weltkrieg: Spionage, Verrat, Betrug und immer wieder Schicksal.
Regisseur Anthony Minghella schreckt nicht vor großem Gefühlskino zurück, und daß man diesem neuzeitlichen Melodram nicht ohne Anteilnahme folgt, liegt daran, daß die Figuren genau gezeichnet werden, bevor sie liebend aufeinander losgehen dürfen. Der englische Patient gibt sich glücklicherweise nicht mit der großzügigen Portionierung von Schmelz und Geigen zufrieden, sondern versteht es auf der ganzen Tastatur des Herzschmerzes zu spielen.
Nun gut, aber der melodramatische Part ist eben nur ein Teil des Films. Die Gegenwartsebene, aus der heraus vom wirren Liebesleben des Grafen berichtet wird, ist mit deutlich weniger Finesse ausgestattet. Während der Patient sich auf dem Krankenbett fiebernd seiner Vergangenheit stellt, muß Juliette Binoche als Krankenschwester Hana etwas unmotiviert um ihn herumhüpfen. Zwischendrin darf sie sich in einen indischen Minenentschärfer verlieben, und die unaufgeregte Art, wie diese Liebelei über die Bühne geht, soll wohl so etwas wie ein Gegengewicht zum melodramatischen Kern des Films sein. Aus dem Nichts taucht Willem Dafoe als ehemaliger Spion mit Namen Caravaggio auf. Er sucht einen Verräter und glaubt ihn im englischen Patienten zu finden. Aber auch diese Verwicklung mag nicht so recht zünden. Die etwas mühselig erzählte Rahmenhandlung, die aus der Romanvorlage von Michael Ondaatje übernommen wurde, schafft es, dem vielversprechenden Melodram schließlich ganz den Schwung zu nehmen. Und so wartet man mit zunehmender Langeweile auf den Beginn der nächsten Rückblende. Schade eigentlich, gerne hätten wir in diesem stilvollen Wüstendrama hingebungsvoll mitgelitten.

Martin Schwickert