PARADISE NOW

Der ganz normale Wahnsinn
Ein ironisch-trauriger Blick auf den Alltag palästinensischer Selbstmordattentäter

Die Videothek in der palästinensischen Westbank ist gut sortiert. Zwischen amerikanischen Action-Streifen stehen die Videotestamente der Selbstmordattentäter. Gleich neben den Märtyrerbekenntnissen sind die Geständnisse und Hinrichtungen der Kollaborateure einsortiert. Sie kosten gleich viel, erklärt der Besitzer. Khaled (Ali Suliman) und Saïd (Kais Nashef) zucken nur kurz mit den Achseln. Das Absurde ist Alltag im Westjordanland. Die beiden Freunde sind hier aufgewachsen und bisher kaum aus ihrer Heimatstadt Nablus herausgekommen. Sie verdienen ein wenig Geld mit Autoschrauben, aber eine Zukunft gibt es hier für die jungen Männer nicht.
Eines Tages kommt Jamal (Amer Hlehel). Es ist soweit, sagt er, und am nächsten Morgen stehen Saïd und Khaled selbst vor der Kamera - ein Palästinensertuch um den Kopf, die Kalaschnikov in die Hüfte gestemmt - und verlesen ihr Märtyrer-Testament.
Ob London, Bagdad, Moskau oder Israel - das Selbstmordattentat als radikalste, verzweifelteste und zynischste Form des politischen Widerstandes hat Konjunktur. In den Medien wird über die politischen und religiösen Motive der Täter und über den Krieg gegen den Terror sinniert. Dabei bleibt die zentrale Frage, was einen Menschen dazu treibt, sich selbst in die Luft zu sprengen und dabei möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen, letztlich unbeantwortet.
In Paradise Now versucht der palästinensische Regisseur Hany Abu-Assad (Ranas Wedding) herauszufinden, was in den jungen Menschen vorgeht, die in Palästina zu Hunderten bereit sind, sich mit einem Bombengürtel um den Bauch im Krieg gegen Israel zu opfern.
Die Antworten entsprechen nicht dem westlichen Klischee einer fanatisierten Jugend. Saïd und Khaled sind zwei ganz normale Typen. Irgendwann haben sie sich auf die Märtyrerliste eingeschrieben, so wie es viele vor ihnen getan haben.
Die Gewalt der israelischen Armee wird in Paradise Now nur kurz aus dem Augenwinkel betrachtet und nicht als Rechtfertigung herangezogen. Sie gehört zum Alltag. Es ist nicht die Gewalt, die die jungen Männer zu Märtyrern werden lässt, sondern der bedrückende, perspektivlose palästinensischen Alltag, den die Repression hinterlässt.
Aber Paradise Now verweigert sich der intensiven Motivforschung und damit auch der politischen Propaganda, indem der Fokus auf den kleinen, begrenzten Lebensabschnitt - die letzten 24 Stunden vor dem Attentat - gelenkt wird. Abu-Assad zeigt die Mechanik, zeigt das Ritual, das mit der Ausführung des Selbstmordanschlages einher geht.
Nachdem der Verbindungsmann bei den beiden auftaucht, geht alles seinen Gang. Die letzte Nacht zu Hause unter Beobachtung eines Milizionärs, der unauffällige Abschied von der Familie, das Waschen, Rasieren und Einkleiden der designierten Attentäter, das Gespräch mit dem Anführer und eben die Dokumentation der letzten Worte durch die Videokamera.
Doch das Ritual bekommt Risse, die die Leere der revolutionären Gesten entlarven. Gleich dreimal muss Khaled das vorgeschriebene Märtyrer-Testament vorlesen, weil die Videokamera nicht funktioniert. Beim letzten Versuch raschelt der Leiter der Operation mit seinem Pita-Sandwich herum, und Khaled gibt noch ein paar letzte Einkaufstipps für seine Mutter durch.
Immer wieder ironisiert Paradise Now, ohne in die Farce abzurutschen. Als die beiden endlich mit den Bombengürteln um den Bauch durch den Zaun nach Israel schlüpfen, läuft die Operation schief. Während Khaled den Weg zurück zum Unterschlupf findet, irrt Saïd mit dem Bombengürtel, den man nicht selbst abnehmen kann, durch Nablus auf der Suche nach Hilfe und nach Antworten auf Fragen, die er sich, von der Verzweiflung angetrieben, plötzlich stellt.
Das politische Porträt ist längst in einen existenziellen Konflikt und einen Thriller auf Leben und Tod gemündet.

Martin Schwickert
Israel/F/D 2005 R: Hany Abu-Assad B: Hany Abu-Assad, Bero Beyer K: Antoine Heberlé D: Kais Nashef, Ali Suliman, Lubna Azabal