OLIVER TWIST

Allein in London
Polanskis Dickens-Verfilmung balanciert zwischen Realismus und Phantasie

Der 1837 erschiene Jugendbuchklassiker Oliver Twist ist guter, harter Stoff. Dickens schildert die dunklen Seiten des viktorianischen Englands und zeigt die Armut jener Zeit in schillernden Farben. Die Geschichte erzählt auch von einem grundlegenden kindlichen Gefühl: der Erwachsenenwelt hilflos ausgeliefert zu sein.
Roman Polanski konzentriert sich in seiner Oliver-Twist-Verfilmung auf diesen emotionalen Kern des Romans. Das Kind wird zum Spielball für bigotte Waisenheimdirektoren, skrupellose Gauner, kaltblütige Kriminelle, patente Dirnen und empathiefähige Großbürger. Im unmoralischen Raum des Londoner Untergrunds werden die kindlichen Moralvorstellungen stets aufs Neue geprüft.
Polanski erzählt davon mit harten Kontrasten und balanciert den Wechsel zwischen düsteren und hoffnungsvollen Momenten perfekt aus. Die kunstvoll gearbeiteten Sets sind eine gelungene Mischung aus Realismus und expressionistischen Elementen.
Obwohl sich die Verfilmung voll und ganz der kindlichen Perspektive verschrieben hat, entwickelt sich eine zweite Person zur gleichberechtigten Hauptfigur: der alte Fagin, ein Hehler, der verwaiste Jugendliche als Taschendiebe ausbeutet und ihnen dafür ein Dach über dem Kopf anbietet.
Bei Dickens ist Fagin ein habgieriger Jude. Polanski verwandelt diese Figur in einen schillernden Charakter. Der wunderbare Ben Kingsley spielt Fagin als einen Widergänger Shylocks, der durch Ausgrenzung ins unmoralische Handeln gedrängt wird, der die Jungen ausbeutet, aber auch gleichzeitig eine warmherzige Vaterfigur für sie ist.
Man spürt, dass Polanski einen sehr persönlichen Zugang zu dieser Geschichte hat. Nachdem seine Eltern nach Auschwitz deportiert wurden, musste sich Polanski als Kind im besetzten Polen während des Zweiten Weltkrieges alleine durchschlagen.
Diese prägenden Erfahrungen des Verlassen-, Verloren- und Ausgeliefertseins, die schon in Der Pianist thematisiert wurden, finden ihr Echo in der emotionalen Intensität dieser Verfilmung, die sich der kindlichen Erlebnisperspektive verschreibt, ohne je in düstere Effekthascherei oder falsches Mitleidspathos abzurutschen.

Martin Schwickert
F 2005 R: Raman Pilanski B: Ronald Harwood K: Pawel Edelman D: Barney Clark, Ben Kingsley, Jamie Foreman. Bundesstart: 22.12.05