OLD BOY


Reflexe

Eine koreanische Rachegeschichte der besonderen Art

Wer zum Teufel bist du?" fragt der Mann, an seiner Krawatte über dem Abgrund baumelnd, den Fremden, der ihn festhält. Die Antwort auf diese schlichte Frage dauert ganze 120 Kinominuten. Fünfzehn Jahre war Dae-su Oh (Min-sik Choi) in einem fensterlosen Hotelzimmer eingesperrt. Das Essen wurde unter der Tür durchgeschoben. Eine kräftige Dosis Nervengas sorgte für den täglichen Schlaf, das Fernsehen war der einzige Kontakt zur Außenwelt. Während auf dem Bildschirm die Weltgeschichte vorbeizog, kämpfte Dae-su Oh mit Schattenboxtraining und Selbstverstümmelungen gegen den Wahnsinn an. Dann steht er auf einmal draußen in der Freiheit. Ein Nervenwrack ohne Erinnerung an sein früheres Leben und mit einer unbändigen Wut im Körper. Er trifft auf die junge Mido (Hye-jung Gang), die in einer Sushi-Bar arbeitet und sich von dem Gast, der einen lebenden Tintenfisch samt Tentakeln verdrückt, sehr beeindruckt zeigt. Gemeinsam begeben sich die beiden auf die Suche nach der Vergangenheit und nach dem Mann, der Oh fünfzehn Jahre lang eingesperrt hat. Hinter der Entführung steckt der kalte Geschäftsmann Woo-jin Lee (Ji-tae Yoo). Als Oh ihm endlich gegenüber steht, kann er ihn jedoch nicht umbringen, weil Lee - im Gegensatz zu allen anderen Bösewichtern der Filmgeschichte - die Preisgabe seiner Motive verweigert. Bruchstückhaft setzt sich durch Nachforschungen Ohs Erinnerung zusammen. Als er glaubt, hinter das Geheimnis gekommen zu sein, muss er feststellen, dass er auch außerhalb der Mauern ein Gefangener von Lees Plan geblieben ist.
An der Genreoberfläche ist Old Boy des koreanischen Regisseurs Chan-wook Park (Joint Security Area) eine dieser extraharten Rachegeschichten, wie man sie aus Hongkong oder Japan kennt. Ein wenig erinnert Min-sik Choi als kämpfender Berserker sogar an Charles Bronson in Ein Mann sieht rot. Aber Rache ist hier kein Mittel im heroischen Gerechtigkeitskampf, sondern der letzte, stumpfe Reflex, der nach der psychischen Zerstörung des Helden übrig bleibt.
Im Gegensatz zu all den Bronsons und Schwarzeneggers, die sich geradlinig zu ihrem Ziel durchballern, stolpert Parks wild um sich schlagender Held vollkommen orientierungslos durch die klug konstruierte Handlung. Old Boy, beruhend auf einem japanischen Manga-Comic, ist ein Film von brachialer Rohheit und filigraner Raffinesse. Wenn sich Dae-su Oh nur mit einem Zimmermannshammer bewaffnet gegen eine Überzahl von knüppelschwingenden Gegnern zur Wehr setzt, dann inszeniert Park hier keine Kampfkunst-Schnittorgien, sondern hält die Kamera drauf auf Blut, Schweiß und Wut. Min-sik Choi trotzt mit seiner schauspielerischen Tour de Force dem Begriff Leinwandpräsenz eine neue Bedeutng ab.
Auf der anderen Seite findet Park immer wieder die Ruhe, um sich den Innenansichten seines melancholischen Helden zu widmen. Selten gelingt einem Film auf solch drastische Art die Balance zwischen Gefühl und Härte. Der Plot ist sauber ausgearbeitet, macht immer wieder Falltüren auf, durch die der Held in neue Tiefen stürzt und eine weitere Erzählebene in die Geschichte eingezogen wird. Dadurch gewinnt Old Boy, trotz seiner ausformulierten Gewaltszenen, eine Vielschichtigkeit, die weit über eine simple Revenge-Story hinausweist. In Cannes wurde Parks brachial-geniale Meditation über die Macht der Verzweiflung von den Juroren (unter Vorsitz von Quentin Tarantino) mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.

Martin Schwickert
Korea 2003 R: B: Chan-wook Park, Yo-jun Hwang, Joon-hyung Lim K: Jung-hoon Jung D: Min-sik Choi, Hye-jung Gang, Ji-tae Yoo