MEIN LEBEN OHNE MICH

Neue Blicke

Eine junge Frau bereitet sich auf den Tod vor

Ann (Sarah Polley) weiß, dass sie sterben wird. Zwei Monate noch, sagt der Arzt und hat zum Trost wenigstens ein Bonbon in der Tasche. Ann ist gerade einmal 23 und musste schnell erwachsen werden. Das erste Kind kam mit 17, das zweite mit 19. Nachts putzt sie an der Uni, am Tage baut ihr Mann Don (Scott Speedman) für andere Leute Swimming Pools. Don hat ihr damals beim Nirwana-Konzert mit seinem T-Shirt die Tränen weggewischt und ist gleich bei ihr geblieben. Heute leben sie mit ihren beiden Töchtern in einem Wohnwagen am Stadtrand. Ein Arme-Leute-Leben ja, aber keine Sozialtristesse. Wenn sich die junge Familie morgens um den engen Frühstückstisch gruppiert, erkennt man schnell, dass Geborgenheit nicht an Wohlstand gebunden ist.
Ann sagt niemandem, dass sie sterben wird. Nicht ihrem Mann, nicht ihrer depressiven Mutter, die auf dem gleichen Grundstück wohnt, nicht ihrer diätversessenen Arbeitskollegin (Amanda Plummer), deren Sorgen plötzlich so klein wirken. Mit einer stillen Systematik bereitet sich Ann auf ihren Tod vor. Für ihre Kinder bespricht sie Kassetten mit Geburtstagsgrüßen für die nächsten Jahre. Sogar nach einer passablen Ersatzmutter hält sie Ausschau. Aber nicht nur verabschieden möchte sie sich, sondern auch noch einmal etwas Neues beginnen. Im Waschsalon lernt sie Lee (Mark Raffalo) kennen und lässt sich mit ungewöhnlicher Rasanz auf eine Affäre mit dem eigenbrötlerischen Bücherwurm ein. Für Lee ist es schon bald die große Liebe, während Ann es genießt, eine Beziehung außerhalb des familiären Verantwortungsgefüges zu haben.
Ein Film wie Mein Leben ohne mich wäre im Hollywood-Format sicherlich nicht zu ertragen. Tränenmeer, Geigenklänge, Großaufnahmen auf traurige Kinderaugen - man kann es sich vorstellen. Aber die spanische Regisseurin Isabel Coixet versteht etwas von der Feinmotorik des Gefühls. Natürlich ist Mein Leben ohne mich ein tieftrauriger Film. Das liegt in der Natur der Sache, und wer partout keine Träne lassen will, bleibt besser zu Hause. Aber Coixet geht es weniger um gediegene Endzeitristesse, als um den radikal gewandelten Blick aufs Leben, den Ann durch den nahenden Tod einnimmt, und um die Kraft, die in der plötzlichen Werteverschiebung liegt. Die soziale und emotionale Genauigkeit, mit der Coixet ihre Alltagsheldin beschreibt, ist bestechend, und Sarah Polley verleiht dem einfachen Leben ihrer Figur eine angenehm stille, unaufdringliche Würde.

Martin Schwickert

My Life Without Me. Can/Sp 2003 R&B: Isabel Coixet nach einer Geschichte von Nanci Kincaid K: Jean Claude Larrieu D: Sarah Polley, Scott Speedman, Leonor Watling, Mark Ruffalo