NURSE BETTY

Falsche Schwester

Im TV ist die bessere Wirklichkeit. Und in Arzt-Serien sowieso

Als Kellnerin in einem vergessenen Kaff in Kansas und vernachlässigte Gattin eines unappetitlichen Gebrauchtwagenhändlers hat Betty Sizemore (Renée Zellweger) allen Grund zur Flucht in heilere TV-Traumwelten. "A Reason to Love" nennt sich ihre Lieblingsseifenoper, in der der schmucke Chirurg Dr.David Ravell tagtäglich am offenen Herzen operiert. Während der Traumarzt im Wohnzimmer "Ich weiß, dass es da draußen jemand ganz Besonderen für mich gibt" aus dem Fernseher haucht, wird nebenan Bettys Ehemann Del (Aaron Eckhart) von zwei Killern der Drogenmafia brutal ermordet. Durch einen Türspalt beobachtet Betty die Bluttat, und der schockierende Anblick versetzt sie in einen Zustand traumatischer Trance. Vollkommen taucht sie in die Welt der Krankenhausserie ab, setzt sich ins Auto und fährt nach Los Angeles, um das Herz des Herzspezialisten zu gewinnen.
Tatsächlich bekommt Betty eine Anstellung im Hospital, und bei einer Gala-Party der Filmbranche trifft sie endlich auf den Traumdoktor. Der arrogante Schauspieler George McCord (Greg Kinnear) ist zwar zunächst irritiert durch die Verehrerin, die sich so beharrlich als ehemalige Verlobte von Dr.David Ravell ausgibt. Aber die falsche Krankenschwester hält an ihrer Soap-Identität fest, und McCord glaubt, in ihr ein neues TV-Talent entdeckt zu haben. So kommt Betty unverhofft an den Herstellungsort ihrer Traumwelt und vor laufenden Fernsehkameras beginnt für sie ein unsanftes Erwachen. Derweil hat das Gangsterduo längst die Verfolgung der Mordzeugin aufgenommen, und der gealterte Killer Charlie (Morgan Freeman) hat sich unsterblich in das Foto seiner Zielperson verliebt. Die Weichen für ein absurdes Finale werden gestellt.
Gangstermovie, Mediensatire, romantische Komödie - lässig verbindet Regisseur Neil LaBute die unterschiedlichsten Kinogenres zu einem intelligenten Verwirrspiel über Sein und Schein in der Mediengesellschaft. Dabei fällt die Kritik weniger eindimensional aus als in Peter Weirs Truman Show. Weil ihr Dasein ein Albtraum ist, erklärt Betty die Seifenoper kurzerhand zur Wirklichkeit und reist nach Hollywood, wo man eigentlich nicht überleben kann, wenn man Realität und Fiktion miteinander verwechselt.
Anders als Truman wird Betty jedoch nicht von der erbarmungslosen Medienmaschinerie zermahlen, sondern setzt sich mit naiver Beharrlichkeit gegen den Branchenzynismus durch. Renée Zellweger hat hier endlich eine Rolle gefunden, die ihrem zuckersüßem Darling-Image die notwendigen ironische Konturen verleiht, Morgan Freeman als verliebter Killer mit Pensionsanspruch passt sich gut in den sanft karikierenden Grundton der Erzählung ein.
Neil LaBute ist einer der wichtigsten Gegenwartsdramatiker der USA, aber seine Filme wurden bisher von deutschen Verleihern kaum beachtet. Das wird sich nach Nurse Betty hoffentlich schlagartig ändern.

Martin Schwickert

USA 2000 R: Neil LaBute B: John C. Richards / James Flamberg K: Jean Yves Escoffier D: Renée Zellweger, Morgan Freeman, Greg Kinnear 108'