MATHILDE

Yin und Yang
Sehnsucht und Schützengraben - Herr Jeunet verwirbelt mal wieder alles

Jean-Pierre Jeunet ist ein Sammler. Früher hat der französische Filmemacher jeden noch so kleinen Einfall auf einen Zettel geschrieben und in einer Dose verwahrt. Irgendwann wurde das Ideen-Sparschwein dann geschlachtet und zu einem Drehbuch verarbeitet. Die fabelhafte Welt der Amélie ist so entstanden.
Drei Jahre sind seitdem vergangen. Vielleicht eine zu kurze Zeit, um vom Ideensammler Jeunet einen weiteren Geniestreich erwarten zu können. Nicht aus Jeunets Zetteldose stammt die Geschichte, sondern aus dem Bücherregal. Wo Amélie in ungetrübten menschlichen Optimismus erstrahlte, stürzt sich Jeunet mit Mathilde in die dunkelste Ecke der menschlichen Existenz: in die Schützengräben des 1. Weltkrieges. Fünf Soldaten haben sich hier, um der Kriegshölle zu entkommen, selbst verstümmelt und werden prompt als Deserteure verurteilt. Im umkämpften Niemandsland zwischen Deutschen und Franzosen schickt man sie in den sicheren Tod. Aber am Ende eines mörderischen Gefechtes kann niemand mehr feststellen, ob die fünf tatsächlich gestorben sind.
Für Mathilde (Audrey Tautou) bedeutet diese Ungewissheit Hoffnung. Auch als Manech (Gaspard Ulliel) lange nach Kriegsende nicht zurückkehrt, glaubt sie unbeirrbar, dass ihr Verlobter noch am Leben ist. Sie macht sich auf die Suche in Militärarchiven, auf Soldatenfriedhöfen, spürt ehemalige Kameraden auf und lernt immer kompliziertere Versionen der Ereignisse im Schützengraben Bingo Crépuscule kennen.
Immer wieder kehrt der Film aus der friedvollen, sonnendurchfluteten Heimat in der Bretagne zurück auf das Schlachtfeld des 1. Weltkrieges, wo der Granatenhagel die Dolby-Surround-Boxen beben lässt. Fast schon plakativ stellt Jeunet das männliche Prinzip "kriegerische Zerstörungswut" gegen das weibliche Prinzip von ewiger Liebe und unbeirrbarer Hoffnung - ein etwas abgeschmackter Dualismus, der schon so manche Soldatenbraut-Schmonzette angetrieben hat.
In diesem seinem inneren Kern ist Mathilde eine große Enttäuschung. Aber sobald sich die Geschichte verzweigt, findet Jeunet zur alten Form zurück. So wirken Nebengeschichten - wie die der Gemüseverkäuferin (Jodie Foster), die sich, um den Gatten vor Front zu retten, vom besten Freund ihres Mannes schwängern lässt (und sich dabei in ihn verliebt) - oftmals vielversprechender als der geradlinige Kampf der Hauptheldin um die Liebe ihres Lebens. Wie Amélie überzeugt auch Mathilde durch seinen inszenatorischen Ideenreichtum, auch wenn sich Jeunets mäandernde Erzählweise in der konventionellen Rückblendendramaturgie nicht frei entfalten kann. Weltkriegsepos, Wunderlandmärchen, Skurrilitätenkabinett - irgendwie will sich die Mixtur nicht zu einem neuen Ganzen verbinden. Darüber können auch verschwenderische Ausstattung, liebevolle Bildkompositionen und die schönen Augen von Audrey Tautou nur unvollständig hinwegtrösten.

Martin Schwickert
Un long dimanche de fiançailles F 2004 R: Jean-Pierre Jeunet B: Jean- Pierre Jeunet, Guillaume Laurant, n.d. Roman von Sébastien Japrisot K: Bruno Delbonnel D: Audrey Tautou, Gaspar Ulliel, Jean-Pierre Becker