»NACHT ÜBER MANHATTAN« Unaufgeregt präzise
Sidney Lumet kümmert sich weiterhin um Recht und Gestz bei der Polizei Mit strenger Beharrlichkeit wirft der 76jährige Sidney Lumet in seinen Filmen moralische Fragen auf. In seiner vierzigsten Regiearbeit Nacht über Manhattan wundert man sich über die Direktheit, mit der hier darüber diskutiert und gestritten wird, und daß daraus trotzdem kein moralinsaueres Werk geworden ist. Sean Casey (Andy Garcia) sollte nach dem Willen der verstorbenen Mutter Priester werden, aber er wurde zunächst Cop, wie sein Vater es noch heute ist. Sean lernte, wie es im Genre immer so ehrfürchtig heißt, "die Straße" kennen, bevor er sich zum Staatsanwalt ausbilden lies. Die Kundschaft ist in seinem neuen Job die gleiche geblieben: ganz normale Irre, Gelegenheitsdiebe, harmlos aussehende schwangere Frauen, die Security-Männer niedergestochen haben etc. Wahrscheinlich würde Sean noch jahrelang belanglose Anklageschriften verlesen, wäre sein Vater Liam Casey (Iam Holm) nicht bei einem spektakulärem Polizeieinsatz lebensgefährlich verletzt worden. Der Versuch von Liam und seinem Partner, den berüchtigten Drogendealer Washington festzunehmen, endet in einem Desaster. Liam wird niedergeschossen und binnen weniger Minuten schwirren Polizeifahrzeuge aus allen Richtungen und Revieren zum Tatort. Washington kann in einem Streifenwagen entkommen, während die Ordnungshüter sich bei dem aufgeregten Einsatz versehntlich gegenseitig erschiessen. Schlechte Karten für Bezirksstaatsanwalt Morgenstern (Ron Leibman) und seine Wiederwahl. Er setzt auf einen PR-Coup. Falls Washington gefaßt wird, soll der unerfahrene Sean Casey als Sohn des heldenhaft verletzten Polizisten die Anklage übernehmen. Washington wird nicht gefaßt, er stellt sich selbst in Begleitung des liberalen Anwalts Abe Vigoda (Richard Dreyfuss). Der Dealer behauptet, daß die New Yorker Polizei ihn bei dem Einsatz hinrichten wollte, da er nicht bereit gewesen sei, die neuen Schmiergeldtarife zu akzeptieren. Casey schafft es, die Einwürfe zu zerstreuen und bringt Washington lebenslänglich hinter Gitter. Nach dem siegreichen Prozess fällt der Nachwuchsadvokat in enormen Tempo die Karriereleiter hinauf und wird Morgensterns Nachfolger als Bezirksstaatsanwalt. Er verliebt sich in die wohlhabende, attraktive Juristin Peggy Lindström (Lena Olin), und binnen weniger Wochen und einiger Kinominuten ist Caseys Leben auf den Kopf gestellt. Alles scheint perfekt, bis er in seinem neuen Amt feststellen muß, daß die Korruptionsvorwürfe des Drogendealers gegenüber der New Yorker Polizei der Wahrheit entsprechen und selbst sein Vater darin verwickelt zu sein scheint. Es ist eine alte Geschichte, die der alte Lumet dort erzählt. Hier der Dschungel aus krimineller Gewalt und politischer Korruption, dort das moralisch integre Individuum, das Recht und Gesetz verteidigen will. Die Zeiten des Westerns sind vorbei, in denen ein solcher Konflikt auf staubigen Straßen mit der Waffe unter fairen Duell-Bedingungen ausgefochten werden konnte. Wie John Sales' City of Hope oder zuletzt Harold Beckers City Hall entwirft auch Nacht über Manhattan ein undurchdringbares urbanes Korruptionsgeflecht, in dem es für den Einzelnen keine Möglichkeit zu geben scheint, eine weiße Weste zu behalten. Wenn Sean Casey vor der Wahl steht, das blutbefleckten Stück Papier durch den Aktenvernichter zu schreddern, um seinen Vater zu retten, dann bringt Lumet wieder das Sündenfall-Motiv der klassischen Tragödie auf die Leinwand, um sich danach sehr "sophisticated" aus der Affaire zu ziehen. Natürlich ist Nacht über Manhattan auch ein Film über Söhne und ihre Väter und darüber, ob letztere als Vorbilder taugen. Ein Film auch über den Preis fürs Erwachsenwerden. Uramerikanische Themen alles in allem - aber auf so sympathisch unaufgeregte Art und Weise präsentiert. Die überraschenden Plotwendungen kommen völlig unspektakulär daher, die Kamera zeigt das Geschehen in kühlen distanzierten Bildern. Lumet hat auch mit diesem Film seinen Ruf als Schauspieler-Regisseur erneut alle Ehre gemacht. Ron Leibman als hyperaktiver, herzinfarktgefährdeter Bezirksstaatsanwalt ist einfach enorm, Ian Holm als sehniger, kaugummikauender Alt-Cop die Bestbesetzung, und Andy Garcia bringt die verletzliche Integrität seiner Figur mit tiefbraunäugigem Blick bestens zur Geltung.
Martin Schwickert
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