LILJA 4-EVER

Verraten und verkauft

Wie eine 16jährige Russin zur Prostitution gezwungen wird

Der Wind pfeift durch die Blöcke, durch Fenster, Ritzen und Türen. Ein abgewickeltes Neubaugebiet irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion. Hier gibt es nur noch Übriggebliebene. So verlassen wie der U-Boot-Stützpunkt, der einmal dem ganzen Viertel Arbeit verschafft hat. Die 16jährige Lilja lebt hier. Nicht mehr lange, hofft sie. Denn ihre Mutter hat einen neuen Freund und der nimmt sie mit nach Amerika. Einen Tag vor der Abreise kommt die Ernüchterung. Denn die Mutter will ohne Lilja ihr neues Leben in der neuen Welt anfangen und lässt ihre Tochter zurück. Unfassbar eine solche Szene aus behüteter westlicher Sicht. In Russland hingegen logische Konsequenz eines verhärteten Alltags.
Lilja schlägt sich durch, prostituiert sich gelegentlich und wird von den Jungs im Viertel beschimpft. Nur der 11-jährige Volodya hält zu ihr. Zusammen schnüffeln sie Klebstoff und träumen sich in eine bessere Welt hinein. Dann taucht Andrej auf, der Lilja mit Respekt begegnet und ihr in Schweden Arbeit und ein neue Existenz besorgen will. Kurz vor der Abreise auch hier wieder Ausflüchte, und auf einmal sitzt Lilja allein mit einem gefälschten Pass im Flugzeug nach Malmö. Dort erwartet sie Andrejs Chef und schließt sie in eine spärlich möblierte Wohnung am Stadtrand ein. Der Traum vom neuen Leben im Westen zerbricht am nächsten Morgen, als der Mann Lilja vergewaltigt und sie fortan zur Prostitution zwingt.
Nach seiner 70er-Jahre-WG-Komödie !Zusammen! widmet sich der junge schwedische Regisseur Lukas Moodysson in Lilja 4-Ever dem unbequemen Thema des Menschenhandels. Millionen Frauen und Kinder sind es jährlich, die verschleppt, verraten und verkauft werden. 120.000 davon allein in den EG-Staaten, der Großteil davon aus Osteuropa. Lilja 4-Ever zeigt in klaren, halbdokumentarischen Bildern, was sich hinter diesen Dunkelziffern verbirgt. Wie Körper und Seele des 16jährigen Mädchens mit kaltem Kalkül gebrochen werden. Dabei gelingt ihm und seiner bemerkenswerten Hauptdarstellerin Oksana Akinsjina das Kunststück, der Figur genau jene Würde zu lassen, die ihr Zuhälter und Freier versuchen zu nehmen. Moodyssons Blick ist unbedingt parteiisch, aber nie spekulativ. Auf ganz nüchterne Weise wirkt dieser Film aufwühlend und zeigt unmissverständlich, dass die Profiteure des Elends hier direkt bei uns vor der Haustür anzutreffen sind.

Martin Schwickert

Schweden 2002 R&B: Lukas Moodysson K: Ulf Brantas D: Oksana Akinshina, Artiom Bogucharskij, Elina Benenson