»DIE WEISHEIT DER KROKODILE«

Um Liebe und Tod

Ein Vampir mit Eros und Charisma

Stilvolle Vampire sind selten geworden. Filme wie From Dusk Till Dawn , Blade oder demnächst John Carpenters Vampires zeigen die Nachfahren Draculas als seelenlose Bestien, die es mit effektvollen Mitteln auszurotten gilt. Die schaurige Erotik, der sich die Klassiker des Blutsauger-Kinos seinerzeit bedienten, geht heute zumeist im grobmotorischen Gemetzel verloren. Der Hongkong-Regisseur Po-Chih Leong besinnt sich in Die Weisheit der Krokodile wieder auf die lasziven Tugenden des Genres.
Seine Hauptfigur Steven Grlscz (Jude Law) ist ein moderner Großstadtvampir: attraktiv, stilvoll gekleidet, intelligent, redegewandt, sexy. In der Londoner Damenwelt hat der gutaussehende Untote leichtes Spiel. Nach wochenlangem charmanten Liebeswerben macht er sich über die ahnungslosen Opfer her, saugt sie aus und entsorgt ihre Leichen in den Weiten des englischen Wattenmeeres. Für jede Frau legt Steven ein kleines Buch an mit sorgfältigen Personencharakterisierungen, Zeichnungen, Erinnerungsstücken u.ä.. Aus dem Blut extrahiert er dünne Kristallstäbchen, die ordentlich beschriftet in einer Schatulle aufbewahrt werden: "Verzweiflung" steht auf einem, "Enttäuschung" auf einem anderen. Es sind die emotionalen Essenzen aus den Körpern der Opfer, die Steven zum Überleben braucht. Als die Leiche seiner letzten Freundin an Land gespült wird, wird Inspector Healey (Timothy Spall) auf den undurchsichtigen jungen Mann aufmerksam. Zur gleichen Zeit lernt Steven Anne Levels (Elina Löwensohn) kennen und zieht ein neues unbeschriftetes Buch aus der Schublade hervor. In der selbstbewußten, launischen Frau entdeckt er jedoch erstmals eine ebenbürtige Partnerin. Mehrfach zögert er den finalen Biß hinaus und gibt damit seinen Körper dem langsamen Zerfall preis. Als Anne das wahre Wesen ihres Geliebten erkennt, beginnt ein spannender Kampf um Liebe und Tod.
Regisseur Po-Chih Leong wurde in Großbritannien geboren und ausgebildet, bevor er Anfang der 80er zum Mitbegründer des Neuen Hongkong-Kinos wurde. Mit Die Weisheit der Krokodile verbindet er britische Gruseltraditionen und den Stilwillen des modernen Hongkong-Kinos. Aus der Kulisse des heutigen Londons filtert Kameramann Oliver Curtis ( Love and Death in Long Island ) exquisit-stimmungsvolles Bildmaterial. Das geschmackssicher möblierte Apartment des Großstadtvampirs verbindet den Chic einer Sushi-Bar mit dem morbiden Charme einer römischen Katakombe. Wie der Protagonist, so schreitet auch die schnörkellose Handlung in äußerst eleganten Bewegungen voran. Kommissar und Verdächtiger belauern sich mit gegenseitigem Respekt und auch die beiden Liebenden schnurren umeinander wie Raubtiere. Das ist auf subtile Weise spannend. Auf Blut und Gewaltorgien kann hier verzichtet werden. Der Hauptgewinn des Films ist jedoch Jude Law, der seinen untoten Helden großzügig mit Eros und Charisma ausstattet. Von solch einem attraktiven Vampir würden wir uns jederzeit bereitwillig aussaugen lassen.

Martin Schwickert