j

»27 MISSING KISSES«

Sommerliebe

Eine wundersamer Film über einen erotischen Ausnahmezustand


Das Interview zum Film

Es ist Sommer in diesem Film. Immer. Beständig. In jedem Bild. Die Fenster sind weit geöffnet. Draußen durchflutet der Vollmond die warme Nacht. Sybilla steht im Nachthemd auf dem Bett, steigt barfuß aus dem Fenster direkt auf das Fahrrad und fährt zur Sternwarte, um dem schlaflosen Astronomen Alexander ihr Herz zu Füßen zu legen. Sybilla (Nuza Kuchianidze) ist erst 14. Alexander 41. Das freche Mädchen mit dem roten Lockenkopf ist gerade vor wenigen Stunden in der georgischen Kleinstadt angekommen und hat sich sofort unumstößlich in Alexander (Evgeni Sidichin) verliebt.
Mit 14 ist Liebe eine sehr kompromisslose Angelegenheit. Für den gutaussehenden Witwer hingegen ist es eine flüchtige Beschäftigung, der er mit ständig wechselnden Geliebten nachgeht. Natürlich nimmt Alexander das Mädchenbegehren nicht ernst, obwohl ihm die Reize der frühreifen Sybilla nicht entgehen. Als sein Sohn Mickey sie das erste Mal sieht, bekommt er gleich Durchfall vor lauter Verliebtsein. Wer jetzt ein vatermordendes Lolita-Melodram erwartet, ist mit Nana Djordjadzes 27 Missing Kisses garantiert im falschen Film.
Die georgische Regisseurin und ihr Drehbuchautor Irakli Kvirikadze (Luna Papa) gehen ganz entspannt an solch tragische Konstellationen heran. Schließlich ist Sommer. Da kommen die Gefühle in Fluss und nehmen oft seltsame Wege. Alle sind ein wenig aus dem Häuschen in dieser kleinen Stadt, die der ortsansässige Leutnant gelegentlich mit Artilleriefeuer belegt, wenn seine Frau Veronica (Amalia Mordvinova) wieder außerehelichen Vergnügungen nachgeht. Mit aufgerichtetem Kanonenrohr fährt er auf dem Panzer durch die Straßen und ist doch nicht in der Lage, seinen familiären Fortpflanzungspflichten nachzukommen.
In der alten Munitionsfabrik aus Stalins Zeiten wird Emanuelle gezeigt, was schließlich die komplette Bevölkerung in den erotischen Ausnahmezustand versetzt. Der prinzipientreue Schuldirektor wird tot im Bett der Französischlehrerin entdeckt. Die schöne Veronica erklärt sich endlich unter Zimmerpalmen bereit, dem Verlangen des überpotenten Pjotr nachzugeben. Sie stört sich jedoch am zu groß geratenen Glied des Nachtwächters. Dessen verzweifelte Versuche, sein Geschlecht zu verkleinern, enden in einer wunderbar grotesken Szene unter der Stahlpresse. Hieran störte sich die Festivalleitung in Cannes und verweigerte die Teilnahme am Wettbewerbsprogramm, was nur zeigt, dass auch Filmfestdirektoren nicht immer Herr ihrer Kastrationsängste sind. Dabei ist gerade die beherzte Freizügigkeit, mit der Nana Djordjadze den erotischen Verwirrungszuständen ihrer Figuren zu Leibe rückt, die eigentliche Qualität des Films. Da geht es nicht um Voyeurismus, Moral oder Provokation. Lust kommt hier von lustig, und Hollywood verblasst gegenüber diesem Film als ewig verklemmter Spießerladen. Verliebte Jungs, frühreife Mädchen, rothaarige Nymphomaninnen und impotente Krieger - mit entwaffnender Leichtigkeit und überbordenden Ideenreichtum dekonstruiert Djordjadse die Geschlechterklischees und verliert im turbulenten Trubel trotzdem nie die Poesie der Geschichte aus den Augen. Immer wieder streift der Film mit Mickey und Sybilla durch die Wälder und findet dort wunderschöne Bilder für die verspielt-unschuldige Art, mit der die beiden Teenager die Grenzen zum Erwachsensein abtasten. Nuza Kuchianidze in der Rolle des radikal verliebten Mädchens ist eine wahre Entdeckung - ein rotgelocktes Energiebündel mit selbstbewusster Leinwandpräsenz. Kameramann Phedon Papamichael überzieht die georgischen Nächte mit einem surreal-märchenhaften Flair, und manche Bilder sind so schön, dass man sie nie wieder aus dem Gedächtnis herauslassen möchte. In der verdorrten westlichen Filmlandschaft wirkt ein Film wie 27 Missing Kisses so wohltuend wie ein warmer Gewitterregen.

Martin Schwickert
D/Georgien 2000 R: Nana Djordjadze B: Irakli Kvirikadze K: Phedon Papamichael D: Nuza Kuchianidze, Evgeni Sidichin, Amalia Mordvinova