KILOMETRE ZERO
Stillstand mit Anlauf Mit dem Sarg durchs wilde Kurdistan
Gleich im ersten Bild zeigt Hiner Saleem, Exil-Kurde in Paris, dass sein Film eher patriotisch als politisch korrekt werden wird. Ein kurdisches Paar schaut stumm in den grauen französischen Regen hinaus, während das Radio vom Angriff der Koalitionstruppen auf Saddam Hussein berichtet. Und von Friedensfreunden, die weltweit protestieren. Und vom kurdischen Widerstand, der einräumt, Bush sei wohl ein Imperialist, aber Saddam müsse einfach weg.
Schnitt in die gleissende Sonne, 15 Jahre zurück und nach Kurdistan, wo die irakische Armee jeden wehrfähigen Mann verschleppt, um ihn im Krieg gegen den Iran einzusetzen. Auch Ako, ein junger Familienvater, wird shanghait. Saddams Schergen benehmen sich dabei beinahe komisch kurdenfeindlich, etwa wenn sie einen sehr dicken Mann zwingen, halbnackt vor ihnen zu tanzen. Später weigert sich der, beim Exerzieren hin und her zu laufen ("Warum? Die kommen ja doch alle zurück."). Noch später ist er tot. Es ist nicht lustig. Erst recht nicht, wenn man weiß, dass am 16. März 1988 Saddams Cousin "Chemical Ali" die kurdische Stadt Halabja mit Giftgas angriff.
Ako will weg von der Front. Bei einem Feuerüberfall des unsichtbaren Gegners reckt er in der Hoffnung auf einen Heimatschuß ein Bein aus dem Schützengraben statt sich zu wehren. Ako hat Pech. Stattdessen kriegt er den Auftrag, die Leiche eines "Märtyrers" nach Hause zu begleiten.
So beginnt der Hauptteil des Films, den Hiner Saleem unter abenteuerlichen Umständen und fast ohne Geld und Drehbuch in Kurdistan drehte. Und hier gelingt Saleem auch eines der beeindruckendsten Bilder. Eine Siegeshymne der irakischen Armee erklingt, und hunderte von Autos, jedes mit einem in die Staatsflagge gehüllten Sarg auf dem Dach, fahren in den Sonnenuntergang.
Akos Fahrer ist Araber, und so kutschieren zwei verfeindete Brüder einen Toten durch ein sterbendes Land. Sie geraten dabei in allerlei absurde Situationen, aber ein Road Movie wird nicht daraus. Auch keine persönliche Entwicklung. Die Zwangspartner können nichts miteinander anfangen und lernen nichts voneinander. Als sie einmal über ihre Vorurteile reden wollen, will jeder, dass der andere anfängt. Also schweigen sie und fahren weiter.
Sie begegnen immer wieder einem Lastwagen, der eine Saddam-Statue als ebenso lächerliches wie bedrohliches Symbol herumfährt. Die nur entfernt diktatorähnliche Statue hat ein arabischer Bildhauer extra für den Film angefertigt und wurde dafür von den kurdischen Behörden vorübergehend ins Gefängnis gesteckt.
Bis hierhin haben Europäer längst allerlei Anklänge an Kustorica, Kishon oder Schweijk gesehen. Aber man merkt auch, dass viele Witze wohl nur auf Kurdisch oder mit viel Landeskunde funktionieren, wenn überhaupt. Absurder Humor und ordentliche Charakter-Zeichnung gehen nicht ganz zusammen, manche Szene leidet unter den ärmlichen Produktionsbedingungen, und neben grandios komponierten Bildern von bisweilen mythischer Wucht stehen Notlösungen.
Am Ende ist Ako mit seiner Frau in Paris. Der Himmel ist grau und Hiner Saleem lässt die Frau ein Bonmot seines eigenen Großvaters zitieren: "Unsere Vergangheit war traurig, unsere Gegenwart ist tragisch. Was für ein Glück, dass wir keine Zukunft haben". Dann berichtet das Radio von der Einnahme Bagdads. "Wir sind frei" jubeln die Exil-Kurden. Auf Französisch. Das ist tragikomisch.
WING
F/Kurdistan 2005, R/B: Hiner Saleem, K: Robert Alazraki, D: Nazmi Kirik, Eyam Ekrem, Belcim Bilgin
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