»KISS OR KILL«

Auf der Flucht

Ein ungewöhnliches australisches Gangster-Filmchen

Zu Beginn ein Erinnerungsschock: Die Mutter öffnet die Wohnungstür. Davor steht ein Mann, übergießt sie mit Benzin und zündet sie an. Immer wieder kehrt dieses traumatische Erlebnis zurück und Nikki (Frances O'Connor), die als kleines Mädchen Zeugin des grausamen Mordes an ihrer Mutter war, hat auch heute noch ein unüberwindliches Mißtrauen gegenüber Männern. Al (Matt Day) scheint die Ausnahme zu sein. Sie kennt ihn schon seit mehr als zehn Jahren. Als Ausreißer sind sie zusammen erwachsen geworden - ein unzertrennliches Liebes- und Gangsterpaar. Die finanzielle Erleichterung von Handlungsreisenden ist ihre Spezialität, als einer der Klienten an einer Überdosis Betäubungsmittel verstirbt, gerät die Routine aus den Fugen. Nicht nur die Polizei ist hinter ihnen her. Im Gepäck des Toten befand sich ein Video, das den bekannten Football-Star Zipper Doyle beim Sex mit minderjährigen Jungs zeigt, und Doyle ist entschlossen, die potentiellen Erpresser zur Strecke zu bringen. Auf der Flucht durch die australische Nullarbor-Ebene lernt das Paar sich zu mißtrauen, und auch das ist eine Form des Kennenlernens. Abends kehren sie in ein heruntergekommenes Motel ein. Am Morgen ist der Besitzer tot und die Registrierkasse leer. Hals über Kopf verlassen die beiden den Tatort. Auch nach der nächsten Übernachtung liegen die Gastgeber morgens mit durchgeschnittener Kehle im Bett. Al und Nikki verdächtigen sich gegenseitig und befürchten, das nächste Opfer zu sein. Gleichzeitig zweifeln sie an der eigenen Unschuld, denn Nikki tut nachts schlafwandlerisch Dinge, an die sie sich nicht mehr erinnern kann, auch Al neigt zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen. Beziehungtango und Verfolgungswahn vermischen sich, derweil sind die routinierten Ermittler und der abgebrühte Football-Star ihnen immer dichter auf den Fersen
Kiss or Kill variiert das Bonny&Clyde-Thema auf intelligente Weise und bürstet das Genre gegen den Strich. Immer mehr verstrickt man sich als Zuschauer in ein Netz aus widersprüchlichen Verdachtsmomenten. Die sprunghafter Montagetechnik zerreißt die Szenen und flickt sie schnell wieder zusammen. Selbst den Bildern kann man hier kaum trauen.
Der australische Regisseur Bill Bennett versetzt sein Road-Movie mit skurril-trockenem Humor. Verwirrte Motelbesitzer servieren in der Einöde Käsefondue und berichten von unfaßbar tiefen, schwarzen Löchern in der Landschaft. Ein Schmuckbastlerpaar haust in der Abgeschiedenheit eines stillgelegten Atomwaffentestgeländes. Langjährige Polizistenkollegen holen angesichts eines Stückes gebratenen Specks zu unglaublichen Lebensbeichten aus.
Gerade die Nebenfiguren prägen die lakonische Stimmung dieses Films. Kiss or Kill unterscheidet sich wohltuend von den Routinewerken der Crime-Story-Branche. Bis zum Schluß bleibt die Geschichte spannend, ohne daß sie bis ins Detail durchkalkuliert erscheint. Bennett hat nur einen groben Drehbuchentwurf geliefert. Die Dialoge wurden weitgehend von den Schauspielern improvisiert. Trotzdem sind die Hauptfiguren mit großer psychologischer Präzision gezeichnet und v.a. Frances O`Connor ( Liebe und andere Katastrophen ), Nachwuchs-Star des australischen Kinos, überzeugt als traumageplagte (potentielle) Männermörderin

Martin Schwickert