DER KICK

Auf kurze Distanz

Ein Mord als Theaterstück als Film - da geht Kunst vor Statement

Die Vorlage stammt aus dem Kino: Der Bordsteinkantenbiss. So wie es einer von ihnen in American History X gesehen hatte, ließen die Brüder Marco und Marcel im brandenburgischen Potzlow Marinus in die Kante einer Kuhtränke beißen und sprangen ihm auf den Kopf. Über mehrere Stunden hatten sie den 16jährigen Dorfnachbarn misshandelt, nach dem brutalen Mord verscharrten sie die Leiche in der Nähe der Jauchegrube.
Der Mord von Potzlow im Sommer 2002 und das nachfolgende Gerichtsverfahren ließen einen langanhaltenden Aufschrei der Empörung durch die Medien gehen. Wie immer war man mit einfachen Erklärungsmustern schnell bei der Hand: die Eltern, die Arbeitslosigkeit, der Werteverlust in der ehemaligen DDR, der rechtsextreme Hintergrund einer der Täter: all das passte gut in die medialen Vorurteilsstrukturen gegenüber dem Wilden Osten.
Dem Filmemacher und Theaterregisseur Andres Veiel hat das nicht gereicht. Im Auftrag des Berliner Maxim Gorki Theaters ist er zusammen mit der Dramaturgin Gesine Schmidt über 40 mal nach Potzlow gefahren, hat mit den Freunden, Nachbarn, Verwandten von Tätern und Opfern gesprochen, hat die Vernehmungsprotokolle und Gerichtsakten studiert und aus dem gesammelten Material ein Theaterstück für zwei Personen konzipiert, das nun als Filmversion in die Kinos kommt.
Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch spielen auf der spartanisch eingerichteten Bühne eines Berliner Industriehofes fast zwanzig verschiedene Rollen. Sie leihen den Tätern, deren Eltern, Marinus Mutter, dem Pfarrer, dem Staatsanwalt und den Zeugen des Verbrechens ihre Stimme und ihren Körper. Was zunächst auf den Betrachter etwas verwirrend wirkt, geht als Gesamtkonzept am Ende auf. Die Entpersonalisierung der oftmals erschütternden Aussagen schafft die notwendige Distanz, sorgt dafür, dass man den Blick nicht abwendet und die Worte nicht am Filter der eigenen Vorurteile abprallen.
Veiel liefert keine Erklärungen, aber er spricht trotz allem Verständnis das Dorf, das zusah und schwieg, nicht von seiner Schuld frei. Niemand wird hier geschont. Die Bewohner von Potzlow nicht, aber auch nicht das Publikum, dem der Weg der einfachen Distanzierungen versperrt bleibt.

Martin Schwickert

D 2006 R: Andres Veiel nach einem Theaterstück von Andres Veiel und Gesine Schmidt K: Jörg Jeshel D: Susanne-Marie Wrage, Markus Lerch