REISE NACH KANDAHAR

Der vergitterte Blick

Das Leben in Afghanistan unter den Taliban

Als der iranische Regisseur Mohsen Makhmalbaf seinen Film Anfang letzten Jahres fertigstellte, da wussten hierzulande nur gewissenhafte Zeitungsleser, wo Kandahar überhaupt liegt. Der Film sollte ein Hilfeschrei sein gegen die Ignoranz der Weltöffentlichkeit und wurde von der Zeitgeschichte der letzten Monate plötzlich überholt. Hinfällig ist Makhmalbafs filmischer Ausflug ins Land der Taliban deshalb nicht. Im Gegenteil. Seine ruhigen Bilder sind das notwendige Gegengift zur CNN-Hektik und einseitiger Kriegsberichterstattung.
Der Film folgt der afghanischen Journalistin Nafas (Nelofer Pazira), die aus dem kanadischen Exil in die Heimat zurückkehrt. Ihre Schwester will sich das Leben nehmen, weil das Leben einer Frau nach vollkommener Entrechtung hier ohnehin nichts mehr wert ist. Die Reise beginnt in den Flüchtlingslagern an der iranischen Grenze. Malerisch segelt der Fallschirm am blauen Himmel über den sonnigen Wüstensand. Erst langsam erkennt man, was daran hängt: es ist eine Beinprothese und ein Heer von Amputierten hetzt auf Krücken dem Fallschirm hinterher.
Bilder wie diese haben Makhmalbaf bei den Kritikern in Cannes den Vorwurf der Ästhetisierung des Elends eingebracht. Dabei beschönigt der Film nichts. Er verweigert sich nur dem brutalisierten Realismus der Mediengesellschaft. Die Selbstverständlichkeit und Zähigkeit, mit der in einer Rot-Kreuz-Station um die Vergabe von Beinprothesen verhandelt wird, sagt mehr aus über die Schrecken des Minenkrieges als sensationslüsterne Life-Berichte aus Verwundetenlagern. Makhmalbafs Film ist eine Reise durch die Wüste und durch die verwüsteten Seelenlandschaften, die der jahrzehntelange Krieg in Afghanistan zurückgelassen hat. Versteckt unter der Burka ist Nafas auf bezahlte, männliche Begleiter angewiesen. Aber wem kann man vertrauen, in einem Land, das in Armut und Repression erstarrt ist? Dem 12jährigen Jungen, der gerade aus der Koranschule entlassen wurde, wo er wenigstens eine tägliche Brotration bekommen hat? Dem Armamputierten, der eine Beinprothese zum Verkauf anbietet? Oder dem afroamerikanischen Arzt, der hierher kam, um für Gott zu kämpfen, und nun die Hungernden notdürftig medizinisch versorgt?
In kleinen begrenzten Ausschnitten zeigt Makhmalbaf das Leben unter dem Taliban-Regime. Immer wieder schaut die Kamera durch das vergitterte Fenster der Burka, die nicht nur die Körper der Frauen unsichtbar macht, sondern auch deren Blick in die Welt auf ein kleines Rechteck reduziert. Natürlich ist Makhmalbafs halbdokumentarischer Reisebericht, der ein wenig unter dem poetisch-belehrsamen Off-Kommentar der Hauptfigur leidet, nicht tatsächlich in Afghanistan gedreht worden. Schließlich hatten die Machthaber Filme und Fotos aus dem öffentlichen Leben verbannt. Ihre Angst war berechtigt. Denn welche Kraft in einfachen Bildern liegen kann, beweist Makhmalbafs Reise nach Kandahar fast in jeder Einstellung.

Martin Schwickert

Iran 2001 R&B Mohsen Makhmalbaf K: Ebraham Ghafouri D: Nelofer Pazira Hassan Tanta, Sadou Teymouri