Joschka und Herr Fischer Linke Geschichten Hassfigur und Leitwolf: Ein Portrait des ersten grünen Außenministers Während Gerhard Schröder in der Wahlnacht vom 27. September 1998 sein strahlendes Persillächeln in die Fernsehkameras wirft, steht der zukünftige Außenminister blass und ernst daneben. "Mir war in der Wahlnacht überhaupt nicht lustig zumute. Mein Kopf war voll mit dem, was kommt, und nicht: ,Hurra, wir haben's geschafft!'" Zwölf Jahre später steht Joschka Fischer in einer großen Fabrikhalle. Auf gläsernen Projektionsflächen laufen in der Endlosschleife zusammen montierte Archivaufnahmen, in denen sechzig Jahre bundesrepublikanischer Geschichte und die Lebensstationen des linken Politspontis vorbeiflimmern, der sich auf dem Marsch durch die Institutionen bis in die Bundesregierung hochgearbeitet hat. Der Filmemacher Pepe Danquart (Höllentour) hat Fischer in die Bilder seiner Geschichte gestellt und lässt ihn aus einem gesunden historischen Abstand heraus die eigene Biografie kommentieren. Eine ungeheure zeitgeschichtliche und politische Bandbreite deckt das Leben des 1948 im schwäbischen Gerabronn geborenen Metzgersohnes ab. Die Eltern stammten aus Ungarn und mussten nach dem Zweiten Weltkrieg als Deutschstämmige ihre Heimat verlassen. Als Kind kennt Joschka Fischer nur die Leidensgeschichte der Vertriebenen. Erst im jugendlichen Alter hört er zum ersten Mal vom Holocaust. Die Erschütterung über die nationalsozialistischen Verbrechen wird wie für viele Menschen seiner Generation der Grundstein für eine allmähliche Politisierung. Nach der zehnten Klasse schmeißt er die Schule, später die Fotografen-Lehre und gerät schließlich mit dem Umzug nach Frankfurt in die Studentenbewegung. Von den dogmatischen K-Gruppen hält er sich fern und wendet sich der Hausbesetzer- und Sponti-Szene zu. Der "Deutsche Herbst" und die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer wirken auf Fischer wie ein Schock. Er zieht sich aus der Szene zurück und wird Taxifahrer. "Im Taxi" sagt Fischer heute "bin ich zum Realo geworden. Ich habe gelernt, dass das Großartige und das Hundsgemeine in jedem Menschen ganz eng beieinander liegen." Mit der Parteigründung der Grünen begann der lange Weg durch den Parlamentarismus, bis Fischer 1985 der Umweltminister in Turnschuhen ("Ich hätte lieber andere Schuhe angezogen. Aber es musste sein; das wurde ausführlich diskutiert.") für die rot-grüne Koalition in Hessen wird. In die siebenjährige Amtszeit als Bundesaußenminister fallen der Jugoslawienkrieg, der "Nine/Eleven" und die US-Invasion im Irak. Die Befürwortung eines Bundeswehreinsatzes im Kosovo bringt ihm auf dem Bielefelder Parteitag der Grünen einen Farbbeutelwurf ein, was Fischer auch heute noch sichtlich wütend werden lässt. Eine Intervention im Irak lehnt er jedoch entschieden ab. Danquart reichert sein Politiker-Portrait mit sogenannten Sidestorys an, in denen Zeitzeugen wie Hans Koschnick, die Schauspielerin Katharina Thalbach, der "Haschrebell" Knofo Köcher oder Daniel Cohn-Bendit die Biografie zu einem Rundgang durch die Geschichte der Linken in der BRD weiten. Sechzig Jahre Bundesrepublik in 140 Filmminuten komprimiert - das ist eine spannende dokumentarische Reise, die Joschka und Herr Fischer an einer kontroversen Politikerpersönlichkeit entlang erzählt. Dabei operiert Danquart nicht aus der Position der kritischen Distanz. Die politischen Gegner innerhalb und außerhalb der Partei werden nicht befragt und auch die Privatperson Joschka Fischer bleibt weitgehend außen vor. Anstelle des Bemühens um Ausgewogenheit vermittelt der Film das leidenschaftliche Interesse an gesellschaftlicher Veränderung, das nicht nur Fischer, sondern eine ganze Generation in einem vielfältigen Bewegungsspektrum prägte. Bei aller Medienprofessionalität und zeitlicheer Distanz merkt man Fischer auch heute noch diese Leidenschaft an, die im Machterhaltungspopulismus der gegenwärtigen Politikerelite kaum noch zu finden ist. Martin Schwickert D 2011 R&B: Pepe Danquart K: Christopher Häring, Kolja Brandt
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